Mueller hoch Drei
unsere Schwester am Geruch.
Endlich bewegte sich das Mädchen, das wir so stark im Verdacht hatten, Pauline zu sein. Und jetzt sahen wir ihr zwar immer noch nicht ins Gesicht, aber sie spiegelte sich seitlich in einem Spiegel, dem man einen Rahmen aus geflochtenem Tauwerk verpasst hatte. Und von einer Sekunde auf die andere gab es keinen Zweifel mehr. Das konnte nur Pauline sein.
»Sie sieht dir ähnlich«, flüsterten und zischten Paula und ich gleichzeitig. Das heißt, Paula zischte und ich flüsterte es.
Und die Wahrheit war: Wir hatten beide recht. Paula und ich sahen uns ja nicht allzu ähnlich, jedenfalls waren wir nicht zu verwechseln. Doch würde man mit einem dieser lustigen Computerprogramme mein Gesicht langsam in Richtung Paula oder ihres langsam in meine Richtung zerren, dann käme mit Sicherheit irgendwo in der Mitte das Gesicht von Pauline heraus.
Oder mit anderen Worten: Sie war die fehlende Verbindung, das Missing Link . Paula und ich konnten zusammen über die Straße gehen, ohne dass man unbedingt auf nahe Verwandtschaft hätte wetten müssen. Aber mit Pauline zusammen würden wir aussehen wie eineiige Drillinge mit kleineren Macken.
»Ach du Schande.« Paula dachte offenbar genau dasselbe wie ich. »Aber das war ja irgendwie zu erwarten.« Womit sie natürlich irgendwie recht hatte.
»Was machen wir?«, flüsterte ich.
Paula pfiff einmal tonlos. »Familienzusammenführungs-Triathlon. Anklopfen, Reingehen, Karten auf den Tisch.«
Ich wollte mich schon vom Terrassenboden erheben, wonach mein Hintern auch dringend verlangte, da ging plötzlich die Haustür, und eine Frau trat ins Wohnzimmer, die ich eindeutig als Erika Schönewind identifizieren konnte, Schulleiterin des Dingsbums-Gymnasiums in der Kreisstadt. Und sofort begannen die beiden mit etwas, das aussah wie die Probe zu einer Theateraufführung. Was genau sie sagten, konnten wir durch das Fenster nicht hören, aber welche Stücke dadrinnen geprobt wurden, bekamen wir durch das heftige Gestikulieren der Hauptdarstellerinnen ganz gut mit. Es waren, in dieser Reihenfolge: Die unwillige Tochter , Die verzweifelte Mutter , Die bockige Zicke und Die Gymnasialdirektorin am Rande des Wahnsinns.
Als die Stücke durchgespielt waren, begannen die Hauptdarstellerinnen wieder von vorne, wobei allerdings Frau Schönewind allmählich die Lautstärke dermaßen steigerte, dass wir ein paar Fetzen von ihrem Text aufschnappen konnten. Hier eine kleine, aber repräsentative Auswahl: »bringst mich zur Verzweiflung«, »hab ich doch alles«, »kannst du mich«, »da macht und tut man«, »nicht meine Schuld«. Und immer wiederkehrend: »dann geh doch«. Es war dann allerdings Frau Schönewind selbst, die das Haus verließ, nicht ohne den Versuch, es durch das Zuschlagen der Eingangstür zum Einsturz zu bringen.
Was wir daraufhin beobachteten, war sehr erstaunlich. Denn falls wir erwartet hatten, unsere Restdrillingin würde sich jetzt wie eine beleidigte Prinzessin auf der blauen Sofalehne ausheulen, sahen wir uns getäuscht. Kaum war ihre Adoptivmutter verschwunden, griff sie nach einem bläulichen Rucksack und hüpfte aus dem Zimmer, als probte sie für einen Auftritt der Volkstanzgruppe Die fröhlichen Ostsee-Möwen .
»Ihr nach!« Paula schlich voran, dann folgte Piet Montag, als Letzter ich. Meinen komplett ins Koma gefallenen Hintern hätte ich gerne auf der Terrasse liegen lassen, so sehr beschwerte er sich, als wir uns in Bewegung setzten, aber es ging nicht anders, er musste mit. Im Vorgarten platzierte Paula die Lateindompteuse mitten in eine Gruppe von Gartenseebärzwergen, worauf diese aussahen, als wollten sie in Panik flüchten. »Du hältst jetzt die Augen auf!«, befahl Paula der Puppe, dann ging es weiter.
Am Ende der Veilchenstraße waren wir bis auf etwa zehn Meter an Pauline herangekommen. Um Tarnung waren wir gar nicht bemüht, denn unsere Schwester hüpfte immer noch vor sich hin wie einer, der nichts Böses ahnt und infolgedessen Umdrehen für Zeit- und Energieverschwendung hält. So zockelten wir hinter der hüpfenden Pauline her durch halb Marseby, bis zum Hafen, wo es wirklich eine Segelschule und ein hübsches Restaurant mit Seeterrasse und sogar eine Hafenmeisterei gab. Na prima!, dachte ich bei mir.
Pauline hüpfte auch hier noch. Und als sie schließlich auf einen der Anlegestege für die Segelboote hinaushüpfte, mussten wir aufpassen, dass wir von dem elend wackelnden Ding nicht ins Wasser der Schlei geworfen
Weitere Kostenlose Bücher