Mueller hoch Drei
wollte uns entführen.«
»Bist du dir sicher? Der war doch ganz nett.« Pauline beugte sich über den Fahrersitz. »Du liebes bisschen. Ich glaube, den Schlüssel hat er bei sich.« Sie begann danach zu suchen.
Damit war sie zum Glück eine Weile beschäftigt, so dass ich Paula das Papier zeigen konnte. Wir lasen es rasch. Es war der schriftliche Auftrag, einen gewissen Hund ausfindig zu machen und zu beschaffen, mit welchen Mitteln auch immer.
Paula faltete das Papier zusammen und steckte es ein. »Kommt, Leute! Frischauf! Wir haben noch ein Stück zu laufen.«
»Und der Mann?«, sagte Pauline. »Wir müssen ihn doch befreien.«
»Müssen wir nicht. Wenn er uns entführen wollte, geschieht es ihm recht.«
»Und was, wenn nicht?«
Paula klopfte auf den Kofferraum. »Hier drin hat er mindestens so viel Platz wie bei sich zu Hause. Und Luft kriegt er auch. Wird ihn schon jemand rausholen. Uns kann jedenfalls keiner was anhaben. Wer mit Kindern im Wald anhält, ist auf jeden Fall im Unrecht. Das hier war reine Notwehr. Und jetzt los!«
Pauline zuckte die Schultern, und wir machten uns auf den Weg. Es war noch ziemlich weit bis Fassingen, und hätte uns nicht ein Bauer auf seinem Anhänger mitgenommen, hätten wir es niemals geschafft. So aber lagen wir zu viert im Heu, alle viere von uns gestreckt, einen Strohhalm keck im Mundwinkel und verantwortungslose Gedanken im Kopf. Wenn wir jetzt noch gesungen hätten, wäre das Bild perfekt gewesen.
Als wir kurz vor Fassingen waren, verschwand die Sonne gerade hinter einem Berg. Wir dankten dem Bauern, der in ein anderes Dorf fuhr, und stiegen vom Anhänger. Die letzten paar Kilometer gingen wir zu Fuß. Hier roch es nach dem, was die glücklichen Kühe in der Werbung nie, aber in der Wirklichkeit fast ununterbrochen tun. Dazu rauschte ein kleiner Bach. Gelegentlich schrie ein Vogel.
Das Dorf erreichten wir im letzten Licht. Die Hunde an ihren Ketten bellten, ein paar Katzen flohen vor uns auf die Zäune, und die Leute, die auf Bänken vor ihren Häusern saßen, glotzten uns an. Paula glotzte auch gleich sehr berlinerisch und ein bisschen aggressiv zurück. Ich überredete sie daher, unserer ältesten Schwester das schwierige Geschäft der Kontaktaufnahme mit den Eingeborenen zu überlassen.
Das war eine richtige Maßnahme. Als Bewohnerin einer touristischen Region war Pauline einfach viel geschulter im Umgang mit Fremden. Sie fragte die Leute nach dem Hochschmidt-Hof. Ich für mein Teil verstand kein Wort von dem, was die Leute antworteten, aber meine älteste Schwester beherrschte offenbar auch schwierigere Dialekte. Allerdings bekam sie denkbar schlechte Nachrichten. Die alten Hochschmidts hätten im letzten Jahr ihr vollkommen unrentables Ferien-auf-dem-Bauernhof-Geschäft aufgegeben und lebten seitdem in einem Altersheim weitab von hier. Der Hof stehe leer, und von Bruno, dem Sohn der Hochschmidts, dem »Hallodri«, habe man seit Jahr und Tag nichts mehr gehört.
Wir waren am Boden zerstört. Es wurde still in Fassingen, die Leute zogen sich von ihren Bänken in ihre Häuser zurück, drinnen ging überall das Licht an, und wir hatten mal wieder keine Ahnung, wo und wie wir die nächste Nacht verbringen sollten. Ich hatte Mühe, meine Verzweiflung zu beherrschen – und offen gesagt, es gelang mir nicht. Ich setzte zu einer Rede an, in der ich mich einmal über alles beschweren wollte: über unsere Lage, über Erwachsene im Großen und Ganzen und unsere Eltern und Möchtegern- oder Möchtenichtgerneltern im Besonderen.
Doch Pauline schnitt mir das Wort ab. »Lass gut sein, Kleiner. War ein langer Tag, und morgen sieht vielleicht alles ganz anders aus. Wir gehen jetzt zum Hochschmidt-Hof. Vielleicht können wir da in einer Scheune schlafen. Mir nach, da geht’s lang.«
So gingen wir hinaus in die Bergnacht. Ich trottete in einigem Abstand hinter meinen Schwestern her. Mein noch vor wenigen Tagen so heiles Leben als behütetes Einzelkind war ich wohl auf ewig los. Aber immerhin hatte ich Leute gefunden, die mich, wie ich es gewohnt war, als unmündig und ein bisschen doof behandelten. So konnte ich mich doch wieder ein wenig geborgen fühlen. Und als es dann fast so dunkel war wie unter meiner Patchworkdecke, da nahmen mich meine beiden Schwestern sogar rechts und links bei der Hand, damit der kleine Trottel, der ihr Bruder war, nicht in die reichlich vorhandene Kuhscheiße trat.
Der Hof der Hochschmidts lag etwas höher als das Dorf. Als wir ankamen,
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