Mueller hoch Drei
Sonnenbrillenbesitzers geradezu der neueste Schrei war. Der Lieferwagen fuhr gerade aus dem Schuppen, wobei er schwarze Rauchwolken absonderte. Er bestand weitestgehend aus blassrotem Wellblech, lief vorne halbspitz zu und hatte erbärmlich kleine Räder. Im Ganzen sah er aus wie die Kreuzung aus einem Klohäuschen und einem Einkaufswägelchen.
»Einsteigen«, rief Hochschmidt hinter dem Steuer. Wir zögerten kurz, dann setzten sich Pauline und Pablo zu ihm auf die vordere Sitzbank, die nicht einmal Campingstühlchenqualität hatte, während Paula und ich nach hinten stiegen, in den halbdunklen Laderaum, wo die Bohnerwachstonne sicher festgezurrt war. Hier saßen wir auf zwei Bänken, auf denen man zur Not auch hätte schlafen können.
»Festhalten«, rief Hochschmidt. »Es geht los.«
Aber festhalten konnte man sich nirgendwo. Und von dem Geschaukel und Geschlinger, das einsetzte, als wir die Serpentinenstraße hinunter in die Ebene fuhren, wurde mir ziemlich schlecht. Ich teilte es Paula mit, und die begann sofort aufzuzählen, was mir drohe, wenn ich mein Rekordfrühstück nicht brav bei mir behalten würde. Die Lateindompteuse nickte dazu im Takt der Schlaglöcher. Doch dann erreichten wir glücklich die Autobahn, und mein Magen konnte sich beruhigen.
Hund Null Null Zwei
W ir waren schon kurz vor München, da stellte Hochschmidt das Autoradio an, um den Verkehrsfunk zu hören. Es liefen gerade die Nachrichten, und die Sprecherin berichtete mit bewegter Stimme davon, dass ganz München immer noch nach drei vermutlich lebensgefährlich verseuchten Kindern suche. Deren Identität sei allerdings vollkommen unklar. Die Polizei tappe im Dunkeln. Auch von ihrem Hund fehle jede Spur, obwohl tapfere Münchener unter Einsatz ihres Lebens bislang über fünfhundert verdächtige Hunde bei der Seuchenpolizei abgeliefert hätten.
Wir lachten ziemlich unverschämt, woraus Hochschmidt seine Schlüsse zog. Er drehte an dem Dampfradio, und dann spielte passend zu seinem altmodischen Gefährt ein altmodischer Sender altmodische Volksmusik, in der die Schönheit von Bergen, Wäldern, Seen und Meeren besungen wurde, sofern sie zu irgendeiner Heimat gehörten. Ich wollte natürlich gleich gegen diese akustische Zumutung protestieren, beschloss aber, den Mädchen den Vortritt zu lassen. Doch sie beschwerten sich mit keinem Wort.
Ich wunderte mich. Vielleicht machte diese Überdosis von gesungenem Heimatgefühl meine Schwestern ja ein wenig melancholisch. Schließlich war ich der Einzige, der demnächst wieder bekanntes und vertrautes Terrain betrat, während auf die Mädchen nur eine weitere Station ihrer Vertreibung wartete.
Ich dachte an unser Haus, das ich erst vor vier Tagen verlassen hatte; und da kam es mir vor, als könnte ich mich nicht einmal mehr an alle Zimmer erinnern. Ich bekam einen Schreck. Sollte es so schnell gehen, dass einer vollkommen entwurzelt wird? Konnte man tatsächlich in wenigen Tagen alle Erinnerung verlieren? Wie grauenhaft! Doch da stand mir plötzlich Frau Glossbach überdeutlich vor Augen, und mir wurde klar, wie wenig ich tatsächlich vergessen hatte. Überdies wurde mir klar, wie sehr ich mich nach allem zurücksehnte, inklusive unserer unmöglichen Nachbarin. Ich spürte, dass mir die Tränen kamen.
Da riss mich Paula aus meinen Gedanken. »Verschieb das Heulen auf später. Und guck lieber mal hinten raus. Aber unauffällig!«
Sie hatte das wohl schon getan und saß jetzt unter einer Art Bullauge in der hinteren Ladetür des Lieferwagens. Ich robbte mich heran und schielte mit einem Auge hindurch. Hinter uns fuhr ein ungeduldiger Kombi, und das sagte ich auch zu Paula.
»Du Genie! Guck genauer!«
Der Kombi setzte zum Überholen an und gab den Blick auf einen pinkfarbenen amerikanischen Straßenkreuzer frei. Von seiner Sorte mochte es ja vielleicht noch mehrere geben, nicht aber von der seines Fahrers. Drei Dinge machten ihn unverwechselbar: seine unaufgeräumten Zähne, seine wohlgeordneten Haare und seine Sonnenbrille.
»Ob das ein Zufall ist?«, sagte ich in der Hoffnung, es möge einer sein.
»Quatsch.« Paula robbte bereits nach vorne, um Hochschmidt und Pauline darüber zu informieren, dass einer, der uns gestern schon komisch gekommen war, wieder auf unseren Fersen saß. Hochschmidt fuhr daraufhin noch langsamer, so dass uns mehrere Lastwagen hupend überholten. Unser Verfolger aber blieb seelenruhig an unserer Stoßstange kleben.
»Vielleicht ist er ja ein Inder«, sagte Pauline.
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