Mueller hoch Drei
im Kühlschrank stockdunkel, so dass ich den großen gelben Zettel gar nicht sehen musste. Mir war immer noch nicht danach, ihn zu lesen. Die Schwestern schliefen dann im Doppelbett meiner Eltern, ich in meinem eigenen, Bruno bezog die weiße Ledercouch im Wohnzimmer, für die er lobende Worte fand.
Da mein Zimmer ein Fenster zur Straße hat, bekam ich noch mit, wie ein Rettungswagen vor dem Haus unserer Nachbarin hielt. Ich kriegte einen mächtigen Schrecken. Aber zum Glück war Frau Glossbach bei guter Gesundheit. Es schien, als wollte sie nur ein paar Röschen in die Klinik einliefern lassen. Der Fahrer des Rettungswagens sagte jedenfalls böse Worte und rauschte wieder davon.
Irgendwann, viel später in dieser Nacht, muss in Neustadt das Licht wieder angegangen sein. Aber da schlief ich schon längst, tief und glücklicherweise traumlos.
Guten Morgen, Schönewinds!
W ie kaum anders zu erwarten, war Pablo der Erste der den jungen Morgen in Neustadt begrüßte. Während ich noch schlief oder wenigstens angestrengt so tat als ob, stieg er auf mein Bett und leckte mir ausgiebig die Nase, um dann zur Probe, ob sie weich genug sei, einmal hineinzubeißen. Danach war an Schlafen nicht mehr zu denken. Ich gab mir alle Mühe, beleidigt und empört zu sein, und zog mir meine Patchworkdecke über den Kopf. Darauf biss mich der Hund zur Abwechslung in den dicken Zeh.
Ich gab auf. Zuerst kontrollierte ich meine Sammlung von Glaselefanten, die ich in der gestrigen Dunkelheit gar nicht hatte sehen können. Dann trottete ich in den Flur. Jetzt war ich also wieder zu Hause. Aber so richtig heimisch fühlte es sich nicht an, trotz Milchreis im Kühlschrank, eigenem Bett und vertrauten Klängen aus dem nachbarlichen Garten. Außerdem lag mir schwer ein Problem auf der Seele, oder besser gesagt: Es stand, wie ich bei einem vorsichtigen Blick durch die Gardinen feststellen konnte, immer noch draußen auf der Straße.
Das Problem waren die Schönewinds. Ich bin kein großer Kenner der einschlägigen Gesetze, aber schon lange genug Kind, um zu wissen, dass unsereins nicht alles alleine entscheiden kann. Nicht einmal alles, was uns direkt betrifft. Anders ist das bei den sogenannten Erwachsenen. Vermutlich könnten zum Beispiel die Schönewinds mit polizeilicher Erlaubnis bei uns eindringen und ihre Adoptivtochter zurück nach Marseby holen. Gegen ihren Willen, und erst recht gegen den ihrer Geschwister.
Ich sah das Bild schon im Geiste vor mir. Pauline auf dem Rücksitz des Schönebenz, getrennt von Hund und Bruder und Schwester, ihre Adoptiveltern auf den Vordersitzen, mit grimmigem Blick Richtung Ostsee. Dazu Frau Glossbach in Triumphhaltung vor ihrer Haustür, vermutlich noch ein paar abgerissene Elektrokabel in der Hand. Und schließlich Bruno, Paula und ich, festgenommen und an Händen und Füßen gefesselt.
Bruno würde man wegen Beihilfe zum Adoptivkindesentzug für zehn Jahre den Kontakt zu Tieren verbieten. Paula und mich würden sie auf verschiedene Kinderheime in verschiedenen Kontinenten verteilen und unsere Identitäten so weit manipulieren, dass wir uns frühestens zu unserem siebzigsten Geburtstag wiedersehen und uns unser verpfuschtes Leben erzählen könnten. Als sich mir schließlich noch aufdrängte, was sie mit Pablo machen würden, brach ich das Gedankenspiel schleunigst ab.
Ich horchte ins Haus. Die anderen schienen noch fest zu schlafen, und ein weiterer Blick durchs Fenster bewies mir, dass auch im Benz noch keine Aktivität auszumachen war. Überhaupt lag die Straße völlig still. Kein Wunder, es war ja erst kurz vor halb sechs.
Kurz vor halb sechs – an welchem Tag eigentlich? Ich rechnete nach: Am Sonntag hatten mich meine Eltern verlassen. Am Montag hatte ich mir einen Hund und eine Schwester eingefangen, und am Dienstag war ich mit ihnen nach Berlin gefahren, wo wir das Hotel Adlon aufgemischt hatten. Am Mittwoch waren wir in Marseby an der Schlei angekommen und hatten auf dem Bahnhof schlafen müssen, weil es uns erst am Donnerstag gelingen sollte, unsere Pauline mit ins Drillingsboot zu holen. Die Nacht auf Freitag hatten wir in der leeren Hochschmidt-Wohnung verbracht, bevor wir dann im Seuchen-Express und im Straßenkreuzer des Zahnbesitzers zum Hochschmidt-Hof gereist waren. Am Samstag schließlich waren wir mit einem Fass Bohnerwachs nach Neustadt aufgebrochen und hatten unterwegs einem jungen Hund eine Hollywoodkarriere eröffnet. Mit anderen Worten:
Heute war Sonntag! Sonntag, der
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