Mueller und die Tote in der Limmat
zur Abwürzung:
«Wir sehen eine Videoprojektion von kopulierenden Rhinozerossen, von männlichen Comicfiguren, in deren Körpermitte ein ganz besonders wehrhaftes Organ dräut, von einem Obelisken, der sich langsam aufrichtet, bis schliesslich der Schnellzug in den Tunnel einfährt.»
Nicht der Fehler vom Journalisten.
Und später am Montag, was heute ist, im Müller drin sehr viel unruhiger Schlaf, aber er träumt schlecht. So sieht es in ihm aus: Kalte Hand streckt sich bleich aus Wasser, Haare über fahles Gesicht gespült, Fischchen knabbern an Ohrmuschel. So richtig Ophelia und Horror und heimtückische Cellomusik daruntergelegt. Und Schüsse, aus stählern blauschwarz fletschender Dienstpistole vom Müller, und treffen Statuen von strengem Reformator Huldrych Zwingli und gerechtem Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi und enthauptetem Renaissance-Bürgermeister Hans Waldmann mit Kopf dort beim Stadthaus und grosse Frage im U-Bewussten von uns allen und vom 182-Zentimeter-Polizeimann: Schiesst der Müller u-bewusst die Stadt Zürich tot? Welches Kaliber? Und das Geräusch im Ohr, hässlich! Wie Heugabel fährt in vollgestopften Kornsack, aber Korn feucht und quietscht ein wenig, als Gabel hineinstösst. Und der Müller reisst alle Augen auf im Schlaf und will rufen: «Weg! Weg!» Aber nur ein Stöhnlaut kommt aus den Stimmbändern heraus, weiss er selber allerdings nicht, hört sich ja nicht zu, sondern nur wir, weil wir das beobachten und belauschen, und der Müller schwitzt, aber fraglich: Angstschweiss, Hitzeschweiss?
Können wir jetzt nicht entscheiden, nur vermuten.
Und der feuchte Müllerkörper, 83 Kilogramm auf 182 Zentimeter, fällt ermattet wieder auf die feucht geschwitzte Matratze. Sein Geist sieht schon wieder blanken schwarzen Stahl bläulich schimmern. Geriffelter Griff, Hand darum, Müllerhand darum, kräftige Müllerhand darum, Finger am Abzug, krümmt, Druckpunkt, Knall. Und so geht es jede Nacht seit Schussabgabe mit Todesfolge, nicht beabsichtigt, Freispruch. Trotzdem Trauma und manchmal Konzentrationsschwierigkeiten wie Flackern vom Hirn und FLASHBACK und Müllerstrasse und rennende Gestalt und Rufe und Stimmen und der Müller hinterher und «Halt! Stop! Stehenbleiben! Polizei!» Und Sirene und zweite Sirene und dritte und Autos und Hund bellt und ab und der Müller: «Halt!»
Aber das schleckt dir keine Geiss weg, wenn du einen erschossen hast, ich sag es dir, da kommst du nicht drüber hinweg, ausser du bist, und Müller ist nicht, Recht-und-Gesetz schon, aber nicht Kommissar Kirby und nicht Harry Callahan von «Dirty Harry» und nicht Judge Dredd, weil das gibt’s nur im Film und im Zuchthaus.
Aber Achtung: Das Verbrechen passiert, und deshalb ist Jubel nicht angebracht. Und hässliche Bilder vor allen Augen des Müllers und darum Jubel noch weniger angebracht. Aber jetzt fertig, weil der Montag ist definitiv vorbei. Doch in Chicago ist es fünf und in Vancouver neun Stunden weniger als bei uns, doch das spielt in dieser Geschichte keine Rolle. Bloss: Wenn der Montag vorbei ist, ist er es nur bei uns. Bei anderen noch nicht, bei wieder anderen schon länger, zum Beispiel bei den Koreanern.
Das macht einen schon fast philosophisch. Doch jetzt:
Dienstag früh
Der Dienstag ist bei uns in Zürich im Dialekt der «Ziischtig», also etymologisch der Tag des germanischen Kriegsgottes «Ziu» und in der französischen Schweiz der Tag «mardi», abgeleitet vom römischen Kriegsgott Mars. Ganz schön viel Krieg, nicht wahr? Da kann man ins Grübeln kommen. Schwer. Ob Omen oder Vorzeichen. Aber jetzt wohl eine andere Frage dringender: Sie werden sich jetzt sicher fragen: Warum tut der Müller das? Ich meine, sich interessieren und mit einer Ermittlung beginnen, obwohl, wie man weiss. Tatsache nämlich: Er kann’s nicht lassen mit der Toten in der Limmat, ja mit dem Verbrechen überhaupt. Seine innere Neigung und Begabung, vielleicht sogar seine Berufung, zwingt ihn zum Polizeimannsein. Das ist tief drinnen quasi festestens verankert. Und warum gerade in diesem Moment so heftig? Ganz klar: Der Müller hat sonst nicht viel zu tun. Bisschen Bier trinken, bisschen mit Freunden sprechen, bisschen baden, mal Bekanntschaft schliessen, bisschen Stunden in Franz Schuberts «Internationaler Clearingzentrale» an der Bäckerstrasse 40 clearen helfen, mit Bucher Manfred plaudern und mit dem Deutschen Christoph Weiss und Zeitung lesen, Bücher lesen, bisschen zu Hause sitzen, Filzpantoffelfüsse
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