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Münsterland ist abgebrannt

Münsterland ist abgebrannt

Titel: Münsterland ist abgebrannt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Kehrer
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mochte niemand in Sveagruva. So schaffte die SNSK die Bergarbeiter im wöchentlichen Rhythmus per Flugzeug von Longyearbyen nach Sveagruva.
    In der 1996 geschlossenen Grube 3 im Platåberget bei Hotellneset, ganz in der Nähe des Flughafens von Longyearbyen, war seit einigen Jahren das
Svalbard Global Seed Vault
untergebracht, die globale Samenbank für Kulturpflanzen. Vogtländer arbeitete daran mit, die Eigenschaften der rund siebenhunderttausend Pflanzensamen aufzulisten, die siebzig Meter tief im Berg lagerten, geschützt vom Permafrost und auf minus achtzehn Grad Celsius heruntergekühlt. Die Samen gehörten nicht der
Vault
, es handelte sich um Duplikate nationaler Samenbanken, die die biologischen Schätze ihrer jeweiligen Länder hier für die Ewigkeit retten wollten, falls Katastrophen, Bürgerkriege oder menschliches Versagen die Originale vernichten sollten. Für Spitzbergen als letztes Reservat der Pflanzenwelt hatte man sich nicht nur der Kälte wegen entschieden, die Inselgruppe war seit dem Svalbard-Vertrag von 1925 eine entmilitarisierte Zone fernab nationaler Konflikte. Außerdem gab es hier einen wettersicheren Flughafen, über den die mit Pflanzensamen gefüllten Kisten ganzjährig angeliefert werden konnten.
    Vogtländer musste husten. Ein Schmerz glühte in seiner Brust auf und durchzuckte den ganzen Körper. Der Biologe öffnete mehrere Tablettenschachteln und schluckte einen bunten Mix aus Schmerzmitteln und Antidepressiva. Viel Zeit blieb ihm nicht mehr, die Ärzte gaben ihm höchstens noch ein paar Monate. Lungenkrebs im Endstadium, beim letzten Aufenthalt in der Röhre hatten Metastasen im ganzen Körper aufgeleuchtet. Das nächste Sonnenfest am 8 . März, wenn die Sonne nach den langen Wintermonaten zum ersten Mal wieder über den Horizont lugte, würde ohne ihn stattfinden, so viel stand fest. Sein größter Wunsch war, noch einmal Schnee zu erleben und mit dem Schneescooter über die weiße Landschaft zu fliegen. Vielleicht würde er den Motorschlitten irgendwo verstecken und sich in den Tiefschnee legen. Ein paar Tabletten nehmen, eine Flasche Whisky trinken und einfach einschlafen. Ja, das klang nach einem richtig guten Ende.
    Vogtländer hatte alle Phasen der Krankheit durchlebt, vom Nicht-Begreifen über das Nicht-wahrhaben-Wollen bis zu Empörung, Wut, Panik und Verzweiflung. Nach dem ersten Schock hatte er sich zum Kämpfen entschlossen, jeden kleinen Sieg euphorisch gefeiert und jeden Rückschlag als umso ungerechter empfunden. Wie alle anderen Leidensgenossen, denen er im Krankenhaus in Tromsø begegnete, hatte er nicht verstanden, wieso es ausgerechnet ihn treffen musste. Und wie alle anderen hatte er geglaubt, dass er die Krankheit besiegen könne. Man hatte ihm einen Lungenlappen entfernt, er war bestrahlt worden und hatte sich einer Chemotherapie unterzogen. Und immer war der Krebs, dieser gierige, genetisch fehlgeleitete Zellhaufen, zurückgekehrt. Eine Weile hatte Vogtländer sogar erwogen, Naturheilverfahren auszuprobieren, doch dann hatte der Wissenschaftler in ihm die Oberhand behalten. Irgendwann, als das Waffenarsenal der Schulmedizin erschöpft war, hatte er eingesehen, dass er nichts mehr tun konnte, der Krebs würde als Sieger vom Platz gehen. Ein dummer Parasit, denn mit seinem Wirt würde er sich selber töten. Das war, vor nicht allzu langer Zeit, der Moment gewesen, in dem Vogtländer die letzte Phase erreicht hatte, die Phase der Akzeptanz. Zumindest glaubte und hoffte er, dass es die letzte Phase sein würde. Jetzt beschäftigte ihn nur noch das Problem, so lange wie möglich auf Spitzbergen zu bleiben. Er wollte nicht in Tromsø sterben, in dem Krankenhaus, in dem er behandelt worden war. Und in Longyearbyen durfte man nicht sterben, nicht langsam zumindest. Der Ort war nicht für Alte und Kranke eingerichtet, das örtliche Krankenhaus eignete sich nur für Notfälle, Pflegeeinrichtungen oder ein Hospiz fehlten völlig. Also musste er seinen Tod irgendwie anders regeln.
    Einer sentimentalen Laune folgend, klickte der Biologe auf eine Internet-Nachrichtenseite aus seiner münsterländischen Heimat. Gleich die erste Meldung sprang ihn an: In der Nähe von Nottuln waren ein Professor der Uni Münster und seine Frau in ihrem Haus verbrannt. Er ahnte gleich, um wen es sich handelte, und der nachfolgende Text bestätigte seine Vermutung: Weigold hatte es erwischt. Zuerst Mergentheim, jetzt Weigold. Sein ehemaliger Freund hatte anscheinend recht gehabt mit der

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