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Münsterland ist abgebrannt

Münsterland ist abgebrannt

Titel: Münsterland ist abgebrannt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Kehrer
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Durch die Chemotherapie hatte er alle Haare verloren. Jetzt wuchsen zwar wieder ein paar Stoppeln auf seinem schmalen, ausgemergelten Schädel, aber ein angenehmer Anblick war er wirklich nicht. Außerdem stank er. Der Gnade der Natur, die die Nase lediglich Veränderungen, aber keine gleichbleibenden Düfte wahrnehmen ließ, verdankte er, dass er seinen eigenen Gestank nur im Ausnahmefall bemerkte. Allerdings konnten manche, denen er nahe kam, ihren Ekel nicht verbergen. So wie Lise Eriksen, die Managerin der Anlage, mit der er heute Morgen gesprochen hatte. Für ein paar Sekunden hatte er das Entsetzen in ihrem Blick gesehen, die Angst vor dem Pesthauch des Todes. Und wahrscheinlich war es genau das: die Ankündigung des Todes. In einem Internetforum hatte er gelesen, dass der Gestank die letzte Phase der Krankheit begleitete. Man verweste quasi bei lebendigem Leib. Als Signal an die Umwelt: Haltet euch fern, diesem Lebewesen kann nicht mehr geholfen werden. In der Steinzeit hatte man solche todgeweihten Schmarotzer aus der Höhle geworfen, heute schob man sie in gut klimatisierte Intensivstationen ab. Oder erfüllte ihnen ohne Nachfrage jeden Wunsch, damit sie möglichst schnell wieder verschwanden. Denn normalerweise gehörte es nicht zu Vogtländers Job, die
Vault
zu betreten. Die Aufenthalte in der Kühlkammer waren streng reglementiert, weil Menschen Feuchtigkeit transportierten, die eine Gefahr für die Samen darstellte. Doch Lise Eriksen hatte nicht nachgefragt, als Vogtländer bat, die heutige Lieferung begleiten zu dürfen. Sie hatte nur genickt, die Genehmigung unterschrieben und ihm alles Gute gewünscht. Und Vogtländer hatte sich die Frage verkniffen, an welches Gute sie dabei denke – an das vor oder das nach dem Tod.
    Der Biologe hatte nun auch seinen Overall angezogen und die Kapuze über die Strickmütze gezogen. Er nickte den Lagerarbeitern zu, die daraufhin die innere Stahltür öffneten. Dahinter befand sich eine Kälteschleuse, und erst dann stand man im Allerheiligsten der
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, der bei der feierlichen Eröffnung im Jahr 2008 von den Politikern so hoch gepriesenen Arche Noah der Pflanzen. Wer allerdings auch nur einen Hauch von sakralem Glanz erwartete, musste von den rot und blau lackierten Baumarktregalen, auf denen sich schlichte Kisten bis an die sechs Meter hohe Decke stapelten, enttäuscht sein. Abgesehen von der Kälte, unterschied sich die Kammer nicht von einem stinknormalen Lagerraum einer kleinen Handelsfirma.
    Die heutige Lieferung bestand aus rund fünfzig Kisten, die aus verschiedenen Ländern Europas, aber auch aus Afrika und Südamerika stammten und vom nur wenige Kilometer entfernten Flughafen direkt zum Eingang der
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gebracht worden waren. Während die Arbeiter die Kisten nach einem festgelegten Schema auf die verschiedenen Regale verteilten, verschwand Vogtländer hinter dem letzten Regal auf der rechten Seite. Ganz am Ende des Regals lagerten grüne Kisten aus Deutschland, von einem Institut in Gatersleben. Vogtländer überflog die Beschriftungen der Kisten, zog dann eine nach vorn und öffnete sie. Dafür, dass das problemlos möglich war, hatte er selbst gesorgt. Vor zwei Jahren, als er die Kiste, in der sich angeblich Erbsensamen befanden, unter eine Lieferung aus Deutschland geschmuggelt hatte, war er so umsichtig gewesen, das Klebeband nur lose am Deckel zu befestigen. Das Institut aus Deutschland eignete sich als Versteck besonders gut, weil dessen Kisten vom Eingang der Kühlkammer aus nicht zu sehen waren. So konnte Vogtländer einige der handgroßen, mit Samen gefüllten Aluminiumtüten herausnehmen und in die Innentaschen seines Overalls stopfen, ohne dass die beiden Lagerarbeiter etwas mitbekamen.
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    Vogtländer breitete die Aluminiumtüten auf seinem Schreibtisch aus.
Baba
. Sein alter Freund Bo aus China hatte Kopf und Kragen riskiert, um ihm die Samenproben zu schicken, verbunden mit dem Wunsch, dass Vogtländer die Welt über
Baba
aufklären möge. Nicht nur über die Herkunft des Heilkrautes, sondern auch über die Geschichte seiner Erforschung. Der unrühmlichen Erforschung.
    Vogtländer hatte das Projekt auf Eis gelegt – im buchstäblichen Sinn. Er hatte die Samen in der
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versteckt und sich eingeredet, dass der richtige Zeitpunkt noch nicht gekommen sei. Nicht aus Rücksicht auf Helene Lambert, die mit
Baba
reich geworden war. Schon damals, als Helene Lambert, Christian Weigold und er im Land der Mosuo nach Pflanzenwirkstoffen gesucht

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