Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Münsterland ist abgebrannt

Münsterland ist abgebrannt

Titel: Münsterland ist abgebrannt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Kehrer
Vom Netzwerk:
hatten, war Helene diejenige von ihnen dreien gewesen, die immer zuerst an den kommerziellen Aspekt der Forschungsreise gedacht hatte. Helene hatte die Verträge mit den Chinesen ausgehandelt, sie hatte die Klauseln formuliert, die ihre späteren Lizenzrechte begründeten, sie war am rücksichtslosesten mit den Mosuo-Frauen umgesprungen. Und er, Vogtländer, hatte bei allem mitgemacht, hatte nicht sehen wollen, was da passierte. Weil er in Helene verliebt gewesen war. Weil er diese taffe, selbstbewusste Frau bewundert hatte, ihren Verstand und ihre Sinnlichkeit. Weil er ihren knabenhaften Körper begehrte. Erst viel später, als ihm klar wurde, dass Helene mit Christian und ihm nur gespielt hatte, dass sie alles, auch die intimste Beziehung, einer Kosten-Nutzen-Rechnung unterwarf, hatte er seine eigene Mitschuld erkannt, seine Mitläufer-Schuld an dem Verbrechen, das sie begangen hatten. Deshalb lehnte er auch den Anteil an Lambert-Pharma ab, den Helene ihm anbot. Das wusch ihn zwar nicht rein von seinem moralischen Versagen, aber es ersparte ihm wenigstens den Selbstekel bei jeder jährlichen Gewinnausschüttung. Christian dagegen hatte die Hand aufgehalten. Christian war ein Opportunist gewesen, einer, der sich die Tatsachen schönredete, bis der letzte Selbstzweifel beseitigt war. Wie hatte dieser Idiot nur bis zu seinem Tod glauben können, dass Vogtländer sein Freund war?
    Nein, Vogtländer hatte nicht aus Rücksicht auf Helene Lambert und auch nicht aus Rücksicht auf Christian Weigold geschwiegen. Die Wahrheit war einfacher und beschämender: Er war feige. Er hatte Angst vor der Reaktion der Öffentlichkeit, vor der Kritik seiner Fachkollegen, vor der Verachtung, die ihm entgegenschlagen würde. Vielleicht auch vor den juristischen Folgen. Das und nichts anderes war der Grund, warum er die
Baba
-Samen versteckt und den Mund gehalten hatte.
    Der Biologe nahm eine Aluminiumtüte in die Hand und schüttelte sie. Im Inneren raschelten die Samenkapseln. Man musste sie bald säen, sonst würden sie verderben. Der Bericht, über zweihundert Manuskriptseiten lang, war längst fertig. Er wollte ihn zusammen mit jeweils einer Samenprobe an zehn der renommiertesten biologischen Institute auf der ganzen Welt verschicken. Das Geheimnis würde gelüftet werden, die Gerüchte, die sich in Fachkreisen um die Pflanze und ihre angebliche Entdeckung rankten, fänden dann endlich ein Ende. Vogtländer hoffte, dass die einsetzende Empörung das Patent der Chinesen in der Luft zerreißen würde.
Baba
könnte seinen Status als Luxusmedikament verlieren, stattdessen überall auf der Welt angebaut und zu moderaten Preisen verkauft werden.
    Aber das war eine Zukunftsvision. Vogtländer würde das nicht mehr erleben. Genauso wenig, wie er sich der Kritik würde stellen müssen. Bis dahin hätte er die Flucht ergriffen. Wäre an einem Ort, an dem ihn niemand mehr zur Rechenschaft ziehen konnte. Denn sein Mut war ja nicht plötzlich gestiegen, nein, er war so feige wie zuvor. Er hatte lediglich den letztmöglichen Zeitpunkt in seinem Leben erreicht, an dem er reinen Tisch machen konnte. Und er riskierte nicht einmal etwas dabei.
    Vogtländer legte die Aluminiumtüte auf den Schreibtisch zurück und griff nach seinem Handy. Seltsam, wie sich die Ereignisse zuspitzten. Mergentheim, der Geldgeber, tot. Christian Weigold tot. Die Vergangenheit holte ihn just in dem Moment ein, in dem er sich ihr stellen wollte. Und dann diese SMS , die ihn erreicht hatte, als sein Handy nach Verlassen der
Vault
wieder auf Empfang ging. Die Nachricht beunruhigte ihn mehr als alles andere, was in letzter Zeit geschehen war. Komisch, welche Wirkung diese Frau noch immer auf ihn hatte.
    Bin in drei Tagen in Longyearbyen. Müssen uns unbedingt treffen. Hel
.

[zur Inhaltsübersicht]
Zwanzig
    Auf der
Station Sonnenschein
roch es penetrant nach Urin. Was die Heimleiterin, die Mia und Bastian herumführte, nicht zu bemerken schien.
    «Sie sehen, wir haben offene und helle Räume. Ihre Mutter wird sich bei uns wohl fühlen. Hier zum Beispiel.» Sie blieb stehen. «Der Gemeinschaftsraum.»
    Sechs alte Leute beiderlei Geschlechts saßen mehr oder weniger teilnahmslos um einen Tisch herum. In der Ecke lief ein Fernseher, aber niemand schaute hin. An zwei Rollstühlen baumelten Katheterbeutel. War das der Grund für den Uringestank? Oder deuteten die Wülste, die sich unter manchen Hosen abzeichneten, auf Windeln hin?
    «Manchmal spielen oder singen wir mit den Senioren.

Weitere Kostenlose Bücher