Muensters Fall - Roman
Irene Leverkuhn war kein starker Mensch.
Was ein Gespräch mit dieser Tochter betraf, so beschloss Münster, das erst einmal aufzuschieben. Die Vertrauenerweckende deutete an, dass es mit größter Wahrscheinlichkeit nichts bringen würde und es vermutlich wichtigere Dinge gab, um die man sich kümmern musste.
Eine Weile blieb er sitzen und überlegte, welche das wohl waren. Welche wichtigeren Dinge? Es war noch eine halbe Stunde hin bis zur Besprechung, und in Ermangelung anderer Möglichkeiten nahm er sich von Neuem den Bericht der Spurensicherung vor, der im Laufe der Nacht mit einigen zusätzlichen Seiten komplettiert worden war. Er rief außerdem beide Gerichtsmediziner,
Meusse und Mulder, im Labor an, aber keiner von beiden konnte sehr viel Licht ins Dunkel bringen. Eigentlich überhaupt keins, wenn man es genau betrachtete.
Aber es gab noch einige Analysen zu machen, also gab es noch ein wenig Hoffnung.
»Es wäre dumm, die Flinte zu früh ins Korn zu werfen«, bemerkte Mulder routiniert. »Alles braucht seine Zeit.«
Jung hatte an diesem Montagmorgen keine Kopfschmerzen.
Aber er war müde. Sophie war am Sonntagabend reichlich spät nach Hause gekommen, nachdem sie zwei Tage weggewesen war. Bei Tee und Butterbroten und ein wenig Familienplausch in der Küche kam dann heraus, dass sie die Gelegenheit ergriffen hatte, in der Nacht zum Sonntag ihr sexuelles Debüt zu begehen. Was laut ihren Aussagen auch höchste Zeit gewesen war, sie war sechzehn und ging schon bald auf die siebzehn zu, und die meisten ihrer Freundinnen hatten bereits einen weiten Vorsprung. Das Dumme dabei war nur, dass sie an dem betreffenden jungen Mann nicht besonders interessiert war – einem gewissen Fritz Kümmerle, übrigens ein viel versprechender Mittelfeldspieler mit einem Beckenbauerschen Einschlag und einer bereits abgesteckten Karriere auf den Fußballfeldern in ganz Europa und der Welt – und dass man alle Fragen hinsichtlich Verhütung so ziemlich ausgelassen hatte.
Wobei noch hinzukam, dass sie ein wenig benommen gewesen war. Sowohl vom Rotwein wie von anderen Dingen.
Natürlich war es in erster Linie Maureen, die sich um die schluchzende Tochter kümmerte, aber Jung begriff dennoch – mit einem dubiosen Gefühl von Fremdheit und Zufriedenheit zugleich –, welches Vertrauen es bedeutete, dass ihm überhaupt erlaubt wurde, der Diskussion beizuwohnen.
Zwar kannte er Sophie mittlerweile vier, fünf Jahre, aber immer noch war er nicht mehr als ein Pappmaché-Vater.
Wobei es vielleicht eine gewisse Rolle spielte, dass der richtige Vater ein Scheißvater war.
Wie dem auch sei, weder Jung noch Maureen noch die unglückliche Debütantin waren vor halb zwei ins Bett gekommen.
Weshalb er etwas müde war.
Bongers alter Kasten sah auch nicht viel frischer aus. Genauso verwahrlost wie gestern, stellte Jung fest. Er zog vergebens ein paar Mal an dem Klingelseil und schaute sich an dem dunklen Kanal um. Die Frau vom Nachbarboot schien daheim zu sein, aus ihrem Schornstein stieg ein dünner grauer Rauchfaden, und das Fahrrad war unter der Linde angeschlossen, an der gleichen Stelle, wo sie es gestern abgestellt hatte. Jung machte sich also auf den Weg, hustete warnend und klopfte dann mit dem Schlüsselbund an das schwarz gestrichene Geländer, das entlang der Reling verlief. Ein paar Sekunden später tauchte sie in dem schmalen Türeingang auf. Sie trug einen dicken Wollpullover, der ihr bis an die Knie reichte, hohe Gummistiefel und eine Baskenmütze. In der einen Hand hielt sie einen ausgenommenen Tierkörper, soweit Jung beurteilen konnte, wohl einen Hasen. In der anderen ein Fleischmesser.
»Entschuldigung«, sagte Jung.
»Ja?«, sagte die Frau. »Ach, Sie wieder.«
»Ja«, sagte Jung. »Also, ich sollte mich vielleicht vorstellen ... ich komme von der Polizei. Inspektor Jung. Es geht um Herrn Bonger, wie schon gesagt ...«
Sie nickte mürrisch und schien gleichzeitig zu bemerken, was sie da in der Hand hielt.
»Für den Topf«, erklärte sie. »Andres hat es gestern geschossen... mein Sohn, meine ich.«
Sie hielt den dünnen Tierkörper hoch, und Jung versuchte ihn mit Kennermiene zu betrachten.
»Sehr schön«, sagte er. »Wir müssen diesen Weg ja alle mal gehen ... eh, ich meine, dieser Bonger, Sie haben ihn nicht möglicherweise inzwischen gesehen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Seit Samstag nicht mehr.«
»Er ist gestern also nicht nach Hause gekommen?«
»Ich glaube nicht.«
Sie kletterte
Weitere Kostenlose Bücher