MUH!
Sternenhimmel. Doch einmal, zu später Stunde, begann er zu weinen: «Ich hätte nie zur See fahren dürfen. Dann wäre ich bei meiner Tochter gewesen. Immer. Sie war so kurz auf dieser Welt, nur zweiundzwanzig Jahre, und ich war die meiste Zeit nicht da …»
Er weinte und weinte in mein Fell, und ich ließ das gerne zu. In diesem Augenblick begriff ich, dass das Glück zwar nicht leicht zum Verweilen zu bewegen war, aber dass das Unglück sehr gerne ewig bei einem blieb. Wenn die Liebe ein Arpfgesicht war, dann war das Unglück ein Oberarpfgesicht.
Nach dem Weinen ging es dem alten Mann besser und mir merkwürdigerweise auch. Anscheinend war es für die eigene Zufriedenheit immer ganz gut, wenn es jemandem schlechter ging als einem selbst – was sich Naia wohl dabei gedacht hatte, als sie den Kühen diese Art von Empfindung verliehen hatte? Wollte sie uns damit Demut und Dankbarkeit lehren? Oder uns dadurch Kraft geben, anderen zu helfen? Oder hatte sie sich dabei auch nichts gedacht, so wie in dem Moment, als sie das blöde Unglück überhaupt erfand? Entweder war Naia eine sehr, sehr weise Kuh, deren Weisheit sich einem nicht auf Anhieb erschloss, oder eine totale Pfohlbirne.
Jedenfalls ging es mir jetzt nicht mehr so schlecht wie in den ersten Stunden an Bord. Auch weil mittlerweile das Kalb in mir heranwuchs. Ich bekam sogar schon einen kleinen Bauch. Ich ertappte mich dabei, wie ich lächeln musste, wenn es jetzt in meinem Unterleib leicht zog. Ich stellte mir einfach vor, dass das Kleine wirklich so mit mir reden wollte, und antwortete ihm. Dabei ließ ich mich dazu hinreißen, so alberne Dinge zu sagen wie: «Du Schnutz, du bi, du bi, du wirst bestimmt ein süßer Putzischnutzirutsch.»
Hilde hörte dies und grinste: «Wenn du weiter so mit ihm redest, wird es ein sprachgestörter Putzischnutzirutsch.»
Von da an beschloss ich, lieber nur in Gedanken mit dem Kind zu reden, damit die anderen mich nicht hören konnten. Überhaupt, die anderen: Es erfüllte mich – jetzt, wo wir alle so friedlich dalagen – mit Stolz, dass ich meine kleine Herde so weit gebracht hatte, ohne dass auch nur eine von uns verletzt worden war. Vielleicht war ich doch keine so schlechte Anführerin, wie mir Hilde zwischenzeitlich hatte einreden wollen.
Je mehr sich meine Stimmung in diesen Tagen aufhellte, desto mehr schöpfte ich Hoffnung: Vielleicht würde das Glück irgendwann zu mir kommen.
Aber erst mal kam Radieschen zu mir.
Und gestand ihre Liebe.
Kapitel 37
Ich betrachtete mir gerade einen besonders phantastischen Sonnenuntergang, der feuerrot funkelte, da stellte Radieschen sich zu mir an die Reling und begann zu stammeln: «Lolle … du weißt ja, ich liebe Kühe.»
«Es gibt Dinge, bei denen fällt es einem schwer, sie zu vergessen», lächelte ich.
«Aber etwas habe ich noch niemandem verraten …», redete sie weiter.
«Und was?», fragte ich und ahnte schon, noch während ich die Worte aussprach, dass ich diese Frage sehr bereuen würde.
«Ich … ich liebe eine Kuh aus unserer Herde.»
«Ach, du Scheiße!», platzte es aus mir heraus.
Radieschen sah mich darauf entsetzt an.
«Ich meinte …», log ich hastig, «ach du Scheiße, ich glaub, ich hab meinen ersten Tritt vom Kalb gespürt.»
Das Angenehme, eine so naive Freundin wie Radieschen zu haben, war, dass man sie ziemlich einfach anlügen konnte, weil sie einfach alles glaubte. Das Blöde war, dass man sich dabei immer irgendwie mies fühlte, weil sie selbst viel zu lieb war, um zu lügen.
«Es ist schön», antwortete sie mir, «dass du so etwas Großartiges wie ein Kälbchen in deinem Leib spüren darfst.»
Ich lächelte gequält, und sie redete weiter: «Weißt du, ich habe meine Liebe immer verborgen und nicht mal ansatzweise gezeigt, weil ich die Betroffene einfach als Freundin nicht verlieren wollte. Aber jetzt, wo wir so viel erlebt haben und bald in Indien sind, an einem schönen Ort, an dem Kühe geehrt werden und sicher niemand was gegen eine Liebe zwischen zwei Kühen einwenden wird, frage ich mich, ob ich der Kuh meine Liebe gestehen soll …»
«Ach du Oberscheiße!», fuhr es jetzt aus mir heraus.
«Wieder ein Tritt?», fragte das naive Radieschen.
Ich nickte noch nicht einmal, war ich doch viel zu durcheinander: Radieschen wollte mir ihre Liebe gestehen! Wenn sie dies tat, dann müsste ich ihr erklären, dass ich ihre Gefühle nicht erwiderte. Und dann, dann würde ich ihr weh tun. Das wollte ich nicht. Ich liebte sie doch.
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