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Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert

Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert

Titel: Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Hinrichs
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Dem kommt entgegen, dass der Artikel, der ja auch den Fall anzeigen kann, ohnehin weggelassen wird:
    â€“ ich fahre in _ Türkei; er hat _ Fahne; isch hab Bock auf _ Beziehung; wenn wir sind _ Party etc.
    Das Verwischen des Geschlechts tut ein Übriges. Falls jedoch einmal ein Artikel verwendet wird, ist es oft eine Art Einheitsform, die auch im Neudeutschen auftaucht: mit den Knutschfleck .
    Trotz des Durcheinanders, das der Kasusgebrauch hier ist, schält sich so etwas heraus wie eine Tendenz zu einem formlosen Allzweck-Kasus, der etwa funktioniert wie ein ‹Sammelbecken› für alle denkbaren Anwendungsfälle.[ 35 ] Auf der anderen Seite lassen sich viele Kasusschwankungen, die im Kiezdeutsch besonders krass hervortreten, ansatzweise auch in der deutschen Umgangssprache nachweisen (s. viertes Kapitel).
Ein Ranking der Einflussfaktoren
    Viele Wissenschaften haben heute erkannt, dass ein Phänomen selten nur eine einzige Erklärung hat: Es kommen meistens viele Faktoren zusammen, und auch der Standort des Forschers spielteine Rolle. Beim Kiezdeutsch sind es der Einfluss von Herkunftssprachen, Verwurzelung im Pidgin, verbreitete Mehrsprachigkeit, der Faktor Jugendsprache und eine mögliche Anlage im Deutschen selbst. Dies ist auch etwa die Reihenfolge eines intuitiven Rankings nach der Wichtigkeit. Alle Faktoren wirken möglicherweise oft zusammen und lassen sich nur künstlich trennen. So kommt z.B. der Ausfall der Kopula IST, der ein Merkmal des Kiezdeutsch ist, auch in Pidgins, in der Kindersprache, beim Fremdsprachenlernen, beim ‹ foreigner talk › und in der lässigen Umgangssprache vor (Ferguson 1971), kann aber auch ein systematischer Zug einer Hochsprache sein (Arabisch).
    Der Einfluss von Migrantensprachen nimmt klar Platz 1 ein. Mir scheint, dass der massive Einfluss von Migrantensprachen ganz und gar unwiderlegbar ist und auch unmittelbar einleuchtet . Überall fanden sich Parallelen, und es müsste mit dem Teufel zugehen, wenn das Kiezdeutsch in seiner Genese nicht ordentlich mit seinen Hintergrundsprachen interagiert hätte. Vorzeigebeispiele waren der Kasusverfall, der Existenzanzeiger oder der Ausfall von Satzteilen. Es wäre auch ganz seltsam, den Einfluss von Hintergrundsprachen zu leugnen, die alle in irgendeiner Form ihre Kasus abgebaut haben (z.B. Balkansprachen) oder sie in der Sprechvariante reduzieren (z.B. Arabisch). So ähnlich ist es bei den meisten anderen Zügen.
    Eigentlich auf dem ‹zweiten Platz 1› steht der Pidgin-Faktor: So gut wie alle Phänomene des Kiezdeutschen lassen sich im Grundrepertoire für Pidgins finden (Pfaff 1981), allen voran der Ausfall des Artikels, dann die so auffällige Reduktion der gesamten Grammatik. Den Pidgincharakter muss man nicht nachweisen, er ist überall bezeugt.
    Mehrsprachige Fähigkeiten mögen dem Fremdspracheneinfluss den Weg bereiten, und wer den Segen der Vielsprachigkeit und der Multikulturalität betont, sollte vor deren Konsequenzen nicht die Augen verschließen. Mehrsprachigkeit erzeugt einen anderen Modus der Sprachverarbeitung: Sie fährt alles herunter, was dem geänderten Energiehaushalt Fremdsprache/Muttersprache zuwider läuft. Das mehrsprachige Hirn relativiert und simplifiziert alle hohen Kategorien automatisch, weil die kognitive Belastung zu hoch ist im Verhältnis zum kommunikativen Nutzen. Seine implizite Botschaft ist: Exakte Kasus, komplizierteKongruenzen, ‹richtige› Artikel usw. sind in ihrer strengen Ausschließlichkeit monolingual bedingt und als strikte Norm für die mehrsprachige Kommunikation nicht hilfreich. Sie müssen und können relativiert werden.
    Beim Kiezdeutsch haben wir das Phänomen, dass sprachliche Reduktion in großem Stil einen modernen Jugendslang , die Sprache einer engen peer-group , prägt. Das liegt offenbar daran, dass das Kiezmilieu das klassische Pidginmilieu nachmodelliert, und zwar nicht für ein fernes Land, sondern für einen Stadtteil um die Ecke: Jugendsprache bedient sich in diesem Fall jener Strukturen, die im Pidgin vorgefunden werden, und richtet sie insgesamt auf ‹anti› aus.
    Der Punkt Anlage im Sprachsystem ist insgesamt schwach, er nimmt gerade noch die letzte Position ein. Natürlich kann man für vieles nach einer Anlage im Deutschen suchen. In den Dialekten und der Sprachgeschichte kann man alles finden, wenn man nur lange genug sucht. Deshalb ist die

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