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Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert

Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert

Titel: Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Hinrichs
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Jahrzehnte noch etwas genauer an: Die Veränderungen tauchen seit den 1960er Jahren in einer rudimentären, noch grob pidgin-artigen Form auf, setzen sich fort im Deutsch der zweiten und dritten Generation migrantischer Randgruppen in Mannheim, Frankfurt, dem Ruhrgebiet, Hamburg und Berlin, strahlen weiter aus ins Deutsch der Millionen mit Migrationshintergrund (das nicht untersucht ist) und erscheinen schließlich in subtilen, aber unabweisbaren Spuren in der gesprochenen deutschen Standardumgangssprache des ausgehenden 20.und des beginnenden 21. Jahrhunderts (die ebenfalls nicht systematisch dokumentiert sind). Der deutsche einsprachige Muttersprachler übernimmt dabei, ob er will oder nicht, allmählich den Tenor der neuen Formen, sobald genügend andere sich ihrer ebenfalls bedienen. Dies geschieht in langen Phasen unbewusst oder halbbewusst. Vor allem anderen betrifft dies den Abbau der Deklination und des grammatischen Zusammenhaltes der Endungen, strahlt aber dann weiter auf viele sprachliche Ebenen aus. Es handelt sich klar um Reduktionserscheinungen, ja oft um regelrechte Simplifizierungen . Bei sprachlich ausgereiften Erwachsenen haben wir es zu tun mit einer unbewussten, aber trotzdem gezielten Bewegung von einer komplexeren Stufe der grammatischen Organisation auf eine einfachere Stufe, die für neue Kommunikationsarten in einem mehrsprachigen Milieu geeigneter ist. Am besten lässt sich die Diskussion starten am Beispiel der vier deutschen Fälle.
22. DER FALL DER FÄLLE
    Alle vier Kasus des Deutschen sind in der gesprochenen Umgangssprache in mächtiger Bewegung: ein Erbe der letzten 40 Jahre. Diese Tendenz geht zwar weit zurück in die Sprachgeschichte, bildet aber seit etwa 20 Jahren einen auffälligen ‹Wellenberg›, durch den sich die Veränderungen viel schneller abspielen als früher. Dies heißt, dass die Fälle immer häufiger auf neuen Positionen erscheinen, neue Funktionen ausüben und deshalb mehr und mehr alte Verwendungen einbüßen: Das ganze Kasus-Feld ufert aus. Bastian Sick hatte mit seinem Bestseller Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod die Spitze des Eisbergs benannt – und bietet eine Fülle von Beispielen. Allerdings wird durch die augenzwinkernde Attitüde leider auch verschleiert, dass hier im Grunde gar keine ‹Fehler› oder falsches Deutsch vorliegen, sondern dass wir es zu tun haben mit tiefgreifenden Umwälzungen im Innern der Sprache. Diese betreffen auch nicht einzelne Gebrauchsfälle, sondern das gesamte Kasussystem, und haben Auswirkungen auf die Struktur des Deutschen als Ganzes: So werden ja nicht nur die Fälle ‹falsch› gebraucht ( mit diese n Problem; nach de n Ergebnis; wir fahren i m Urlaub ), auch die Präpositionen werden im Gegenzugganz neu eingesetzt, nämlich als Kasus-Anzeiger ( Die Zukunft für Deutschlands Banken ). Präpositionen übernehmen im Neudeutschen mehr und mehr die alten Funktionen der Fälle. ‹Fehler› im Kasusgebrauch und unsichere Präpositionen stehen also miteinander in Beziehung – ja sie verfolgen sogar ein gemeinsames dunkles ‹Ziel› ( silent goal ), nämlich den zukünftigen Umbau des deutschen Sprachsystems: Dafür konditionieren sie bereits jetzt die Sprecher und die Sprachgemeinschaft vor.
    Der Umbau des deutschen Kasussystems ist das Ereignis, das Spielfeld des aktuellen Sprachwandels. Auf ihm bereitet sich eine Umwandlung des Sprachsystems in großem Ausmaß vor, von dem im Moment niemand sagen kann, wo genau sie einmal endet und wie das Deutsche in etwa 30 Jahren aussehen wird. Ganz sicher scheint aber, dass es ein Deutsch sein wird, in dem sich die Sprachsituation um die Jahrhundertwende widerspiegelt: Die Morphologie, die Kasus und Endungen, wie wir sie heute (noch) kennen, werden dann eine deutlich geringere Rolle spielen. Viele grammatische Kategorien werden anders aussehen, die Anzahl der möglichen Varianten, etwas auszudrücken, wird viel höher sein als sie es jemals war.
    Um ein Beispiel zu nehmen: Schon heute existieren nebeneinander viele Möglichkeiten, um einen Genitiv auszudrücken:
    â€“ Das Auto meines Vaters/das Auto von meinem Vater/das Auto von mein’ Vater/Vaters Auto/Vater sein Auto
    und womöglich noch weitere. So ist es in vielen anderen Kategorien auch. Überhaupt scheint zweifelhaft, ob sich jemals wieder eine eindeutige Norm des deutschen (Sprech-)Standards wird

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