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Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert

Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert

Titel: Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Hinrichs
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festlegen und durchsetzen lassen. Eher wird es eine Reihung von Varianten geben, die verschiedenen Registern angehören und miteinander konkurrieren. Das Deutsche wird sich dadurch – auch das ist ziemlich sicher – von seinen östlichen, z.B. polnischen und russischen Nachbarn (‹Kasussprachen›) weiter entfernen und sich strukturell mehr an seine westlichen und nördlichen Nachbarn – die anderen germanischen und romanischen Sprachen – annähern. In diesen sind ja die Kasus alten Stils schon fast ganz verschwunden. Gehen wir die Fälle der Reihe nach durch.
Der Genitiv stirbt zuerst
    Der Genitiv ist der erste Kasus, dessen formales Verschwinden tatsächlich abzusehen ist. Der Typus das Auto meines Vaters gehört zumindest für die maskulinen Substantive in der mündlichen Sprache schon heute der Vergangenheit an; der alte Genitiv wird regelmäßig vielleicht noch von älteren Leuten gebraucht, kommt in klassischen Dramendialogen oder überhaupt vorzugsweise im Schriftdeutsch vor, wirkt aber, wenn im Alltag gebraucht, immer leicht antiquiert. Im Osten Deutschlands scheint er aber resistenter zu sein. Schon die nächste Generation wird sich wahrscheinlich an ihn kaum noch erinnern oder ihn eher als kurios empfinden oder parodistisch gebrauchen.
Das Verschwinden der Endung
    Die sicherste Methode, den alten Kasus Genitiv umzuwandeln, besteht darin, die Endung einfach wegzulassen. Dies ist ja im Hochdeutschen durchaus schon möglich, allerdings auf einen ziemlich engen Kontext beschränkt: Dieser ist gegeben, «wenn die Präposition vor einem ‹unbekleideten› Nomen steht, also einem Hauptwort, das weder Artikel noch Attribut mit sich führt: ‹wegen Umbau geschlossen› – das ist erlaubt, es muss nicht ‹wegen Umbaus› heißen. Ist das Hauptwort jedoch ‹bekleidet›, bleibt der Genitiv die bessere Wahl: ‹wegen des Umbaus›, ‹wegen kompletten Umbaus›.» (Sick I, 16)
    Linguisten nennen den Ausfall der Endung mit einem gewöhnungsbedürftigen Ausdruck ‹Null-Endung›: Es ist nichts da und trotzdem wird so etwas wie ‹Genitiv› ausgedrückt und auch verstanden: die Bedeutung Deutschland_; die Zukunft Europa_; die extreme geographische Lage Island _. Durch den Ausdruck ‹Null-Endung› will man das abstrakte System der vier Kasus wenigstens begrifflich noch retten. Der Genitiv wird also in dieser Lesart prinzipiell ‹durch nichts› ausgedrückt, und nichts ist in diesem Sinne immerhin auch noch etwas. Genitiv als Zugehörigkeit zu etwas wird jetzt nicht mehr am Wort (morphologisch), sondern nur noch durch die Wortfolge (syntaktisch) ausgedrückt – ein Prinzip, das in vielen Sprachen vorhanden ist, auch in Migrantensprachen, zum Beispiel im Englischen. Es ist eine Sacheder Ökonomie: mit möglichst geringen Mitteln das Ziel der Mitteilung erreichen.
    Ausdrücke vom Typ die neuen Vorstöße Serbien _ muten in geschriebener Form noch gewöhnungsbedürftig an und mögen sogar Stirnrunzeln hervorrufen, weil das Schriftbild irgendwie nach ‹Fehler› aussieht; nichtsdestotrotz kommen diese Formen mündlich sehr wohl und immer öfter vor und stellen ein Modell der Reduktion von Endungen dar. Und sie werden von der Masse der Sprecher bereits vollkommen toleriert, d.h. sie sind weder stigmatisiert noch werden sie ad hoc verbessert – ja man kann sogar beobachten, dass immer mehr Leute diese Ausdrucksweise unbewusst und spontan übernehmen. Lautliche Prozesse wie Vernuschelung und Verschleifung tun ein Übriges. Sogar in offiziösen Nachrichtensendungen sind diese Formen schon zu besichtigen (wobei der Sprecher dann mündlich vom schriftlichen Teleprompter-Text abweicht). Am auffälligsten ist dieser Typ bei Ländernamen zu beobachten: des zaristischen Russland _. Es ist aber nur eine Frage der Zeit, bis sich dieses Modell auch auf andere Wortklassen ausdehnt. Das Weglassen des Kasuszeichens mag überhaupt beim Fremdwort zuerst angreifen, weil hier die Genitivbindung ohnehin schwach ist: des Spektrum_, des Detail_, des Management_ . Der Null-Ausdruck geht aber immer öfter auch schon auf ‹einheimische› Wörter über: Ausdrücke wie des Ereignis_, des Ausflug_, des Regierungsmitglied_, des Abteilungsleiter _ sind beileibe keine Seltenheit mehr und besonders in der Generation um dreißig schon weit

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