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Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert

Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert

Titel: Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert
Autoren: Uwe Hinrichs
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Sprecher : offiziöser Vorleser von schriftlichem Hochdeutsch oder älterer Gymnasiallehrer mit Stil- und Normbewusstsein;
    b) mit eine n niedlichen Eisbären : wie a), nur mit neuem Pseudo-Akkusativ statt Dativ bei einen; Sprecher : Nachrichtensprecher von Standarddeutsch im TV (dessen mündliche Formulierung von der schriftlichen Vorgabe auf dem Teleprompter abweicht). Wer aufmerksam deutsche Zeitungen liest, kann mehr und mehr typische ‹Fehler› entdecken, wenn z.B. auch schon ‹mit einen niedlichen Eisbären› geschrieben wird. Solche ‹Fehler› gehen nicht auf mangelnde Grammatik-Kenntnisse zurück, sondern sind erste Reflexe der Mündlichkeit, die zaghaft ins schriftliche Deutsch eindringen.
    c) mit ei n niedlichen Eisbär _: neue ‹schwache› Einheitsform von Eisbär ohne Endung nach dem Muster dem Präsident_ ; weiterreduzierter unbestimmter Artikel, allerdings nicht wie in der gewohnten alldeutschen Umgangssprache mit langem -[nn]- ( ein ’), sondern mit einfachem -[n]- als Pseudo-Nominativ bzw. neue Allzweckform; Sprecher : integrierter, gebildeter Migrant;
    d) mit eine n niedliche m Eisbär : Vertauschung oder Verwechslung der korrekten Abfolge mit einem niedlichen Eisbär als Folge der Norm-Auflockerung; Sprecher : alternative Grundschullehrerin im Großstadt-Kiez, sich selber ihres imitierenden Sprachgebrauchs nicht bewusst;
    e) mit eine m niedliche m Eisbär : sehr interessante Variante mit ‹Pseudokongruenz›: eine m niedliche m ist formal inkorrekt, imitiert aber offenbar eine Art Überkorrektheit gepaart mit Unsicherheit. Die deutsche Standardnorm lässt zwei Dative nacheinander nicht zu. Sprecher : Studierende(r);
    f) mit ei n niedliche n Eisbär : Ungefähr hier verläuft die Rote Linie zu dem, was man früher als Substandard, Slang oder Straßensprache abklassifiziert hätte; reduziert ist so gut wie alles, die grammatische Markierung auf eins minimiert: niedlich en – wobei auch diese Form schon wie eine Allzweckform (für alle Kasus) aussieht; Sprecher : zweite Migrantengeneration mit ‹Defiziten› im Standarddeutschen und anderer Zweitsprache;
    g) mit ein niedliche r Eisbär : Hier ist die Kongruenz vollkommen abgebaut, mit einem Rest an Pseudo-Kasus ohne Funktion: niedlich er . Oft werden im Slang ja Präpositionen mit Nominativ oder ohne Kasus verwendet: mit ein Eisbär . Alle Endungen sind verschwunden, es gibt keine Kongruenz. Maßgeblich ist allein die Wortfolge. So gut wie erreicht ist auch – kurios genug – das englische Strukturmuster: with a little funny icebear. Sprecher : Kiezdeutsch-Sprecher, vielleicht in der realen Variante mit ein niedlicher so Eisbär so, weißt was isch mein’ .
    Alle sieben Beispiele sind vollkommen real, und denkbar sind eine Handvoll weiterer Varianten. Niemand hat das bisher untersucht. Alle sieben kann man wahrscheinlich typischen sozialen Gruppen zuschreiben, wie es mit dem ‹Sprecher› versucht wurde: vom Lehrerkollegium bis zu Jugendgruppen. Ganz neu können diese Phänomene nicht sein, denn die schriftlichen Arbeiten türkisch-deutscher Schüler zeigten schon vor zwanzig Jahrengenau diese ‹Fehler› (Aytemiz 1990) – also lange bevor sie in die deutsche Umgangssprache Einzug hielten. Das herausragende, alles bestimmende Ergebnis ist jedenfalls, dass die Kongruenz, der Zusammenhalt der Satzteile, immer mehr an Kraft verliert: Er erodiert und zerfasert. Deshalb muss es eine stark gesenkte Toleranzschwelle in der deutschen Sprechergemeinschaft geben, da im Prinzip niemand vor irgendeiner Normverletzung sicher sein kann: Die meisten Varianten kommen zu irgendeinem Teil so gut wie überall vor. Die hohe Schreibnorm des Standarddeutschen löst sich im Alltag weiter auf und macht einer neuen impliziten Sprechnorm Platz, die keine Regelanweisungen in puncto Grammatik mehr verteilt. Ja, man kann sogar feststellen, dass die weite Ausbreitung des grammatischen Abbaus, die man im chit-chat der deutschen Talkshows geradezu aufsammeln kann, so etwas geworden ist wie ein Ausweis für modernes Sprachbewusstsein, für Toleranz und multikulturelle Aufgeschlossenheit. Ich gehe sogar so weit zu behaupten, dass sie in manchen Formaten ein Prestige zweiter Ordnung vermittelt: Man kann mit lascher Syntax durchaus punkten.
    Die Lockerung des grammatischen Zusammenhalts kann man überall antreffen. Die folgenden
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