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Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert

Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert

Titel: Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert
Autoren: Uwe Hinrichs
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aufgelöst
    Die Lockerung der Kongruenz ist wahrscheinlich die mächtigste Tendenz des aktuellen Sprachwandels im Deutschen. Der ‹Kitt› zwischen den Wörtern und zwischen den Bedeutungen (schwerer zu erkennen) bröckelt, und deswegen wird viel von der bodenständigen Grammatik des Standards abgebaut. Wie kann man sie interpretieren? Zunächst ist da die
    Ã¶konomische Seite: Wenn Mehrsprachigkeit im Land dominiert, wird zuerst das abgeschliffen oder beseitigt, was man für die Verständigung nicht dringend braucht. Mehrfache Markierungen werden reduziert und vieles wird dem Kontext überlassen. Das nannten wir das ‹kreolische Prinzip›. Mehrsprachigkeitund Anderssprachigkeit sind wahrscheinlich der mächtigste Motor für diese Tendenzen. Dann ist da die
    typologische Seite: Das Deutsche bewegt sich im Horizont der Zeit langsam auf einen anderen Sprachtypus zu. Wichtige Kategorien der Grammatik werden nicht mehr am Wort selbst, sondern auf der Ebene des Satzes (‹syntaktisch›) ausgedrückt. Dabei kommt es zu vielen Mischformen, die man zur Zeit überall hören kann. Das Deutsche, zumindest in seiner gesprochenen Form, wird damit den westeuropäischen Nachbarsprachen ähnlicher (Hinrichs 2004). Und schließlich ist manches auch im langfristigen Wandel des Deutschen schon angelegt. Dies ist die
    sprachdynamische Seite oder die Seite des langfristigen Sprachwandels, der sich über viele Jahrhunderte erstreckt. So sind die Fälle im Deutschen schon seit langem in Bewegung. Neu ist, dass sich der Wandel so schnell vollzieht wie gerade jetzt und dass er alle Fälle erfasst. Weiter unten wird gezeigt, wie die Sprecher des Deutschen diesen rasanten Wandel ins Werk setzen: Sie ‹spielen› mit den zur Verfügung stehenden und miteinander konkurrierenden Varianten in einer systematischen Weise und sichern so diesen Wandel (‹hopping›, Abschnitt 26).
24. KONFUSIONEN MIT DEM ARTIKEL
    Wenn viele Sprachen aufeinandertreffen und eine oder einige von ihnen einen Artikel haben, dann bilden sich immer starke Verwerfungen aus. Einen typischen ‹Akzent› im Deutschen kann man geradezu an den Artikelfehlern erkennen. Und Migranten bestätigen immer wieder: Deutschlernen ist im Prinzip kein großes Problem – aber der Artikel ist die härteste Nuss. Kein Pidgin und kaum eine Kreolsprache hat einen Artikel, und auch das Kiezdeutsch benutzt ihn fast gar nicht: Offenbar braucht man solche Dinge für ein rudimentäres Verständnis nicht um jeden Preis. Der größte Stolperstein für Migranten ist offenbar, dass es kein zuverlässiges Kriterium gibt, das die Artikel-Zuweisung regelt: Für das Bier, die Langmut oder der Mond gibt es keinen ‹logischen› Grund.
    Im gesprochenen Deutschen ist das ganze Feld der Artikel (wie auch die vier Fälle) schon lange in ziemlicher Bewegung. «VieleDeutsche weisen bestimmten Dingen ein anderes Geschlecht zu, als es im Wörterbuch angegeben ist.» (Sick III, 158) Das Normbewusstsein hat gerade beim Artikel ganz erheblich an Strenge verloren und lockert sich merklich auf. Alles sieht nach einem langsamen, aber stetigen Erosionsprozess aus. Hinzu kommt, dass ein falscher Artikel im Deutschen auch noch aus den Dialekten stammen und dann in die Großstädte wandern kann. Ein besonders heikles Gebiet sind die Vornamen, bei denen sich die Form mit Artikel ( der Stefan, die Charlotte ) immer mehr Terrain erobert. «Irgendwo zwischen Nord und Süd verläuft eine unsichtbare Grenze, eine Art Äquator, der die deutsche Sprachlandschaft in zwei Hälften teilt: in eine bestimmte und in eine unbestimmte Vornamenszone.» (Bastian Sick)
    Artikelschwankungen lassen sich zuallererst bei Fremdwörtern feststellen. Bei manchen ist das Geschlecht offenbar wirklich frei wählbar: der/die/das Joghurt . Von dieser Sorte gibt es offenbar eine Menge, gezählt werden um die 70 (Sick III, 161f.), darunter sind Fremdwörter wie Blackout, Curry, Modem, Paprika, Spray , aber auch Kaugummi, Zigarillo, Toast . Besonders Jugendliche gehen ziemlich freizügig mit dem Artikel um; ich meine, schon mehr als einmal gehört zu haben der Dressing, der Klientel, der Meeting, der Stereotyp, der Massaker , aber dann auch das Event, das Klientel , das Kommentar , sodass selbst der Muttersprachler in vielen Fällen gar nicht mehr vollkommen sicher ist, welcher Artikel nun der richtige
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