Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert

Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert

Titel: Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Hinrichs
Vom Netzwerk:
Türkische sechs oder mehr Fälle hat (als ob das ein Verdienst wäre), nämlich Nominativ göl ‹der See›, Genitiv gölün , Dativ göle , Akkusativ gölü , Lokativ gölde ‹im See› und Ablativ gölden ‹vom See her›. Man darf hier die letzten beiden ruhig abrechnen: Es sind nur räumliche Ausdrücke, wie man sie auch in Sprachen wie Finnisch oder Ungarisch findet; sie täuschen nur ‹Kasus› vor und verkomplizieren das Problem. Echte Fälle gibt es also strenggenommen nur vier und damit hat das Türkische sowohl die gleiche Anzahl als auch grob gerechnet die gleichen Sorten an Fällen wie das Deutsche. Für das Thema, ob und wie sich die beiden größten Sprachen in Deutschland beeinflussen, kann das nicht ohne Bedeutung sein.
    Wir können hier nicht die Anwendung der vier Fälle in beiden Sprachen im einzelnen durchanalysieren (ein Thema für eine Doktorarbeit). Es gibt aber drei große Spielfelder, von denen genugbekannt ist, um direkte Schlüsse auf eine Wechselwirkung mit dem Deutschen zu ziehen:
    Im Türkischen werden die Fälle immer hinten am Wort angezeigt, und da türkische Wörter oft sehr lang sind, fallen diese Endungen psychologisch und akustisch nicht ins Gewicht: Diyarbakır a (Dativ) ‹nach Diyarbakır›.
    Wenn Türken Deutsch lernen, haben sie – wie andere Migranten auch – große Probleme mit den Kasus. Diese Probleme treten im Deutschen ebenso auf wie im Türkischen selbst (‹Deutschland-Türkisch›): Sie werden verwechselt, vernuschelt oder weggelassen.
    Das Türkische hat eine sehr effektive Methode, neue Wörter zu bilden, die den Kasus elegant umgeht; es ist also nicht strikt auf Kasus angewiesen. Dies sehen wir uns genauer an:
Substantiv 1
Substantiv 2
Verbindung durch
iş (Arbeit)
yer (Ort)
iş yeri (Arbeitsplatz)
akşam (Abend)
yemek (Essen)
akşam yemeği (Abendessen)
ceza (Strafe)
kanun (Gesetzbuch)
ceza kanunu (Strafgesetzbuch)
cep (Tasche)
para (Geld)
cep parası (Taschengeld)
    Zwei Substantive werden ohne Zwischenverbindung nebeneinandergestellt und dann durch Mini-Endungen wie (s)i/ı/ü/u/ («seine»/«ihre») zu einer festen Einheit verbunden, der auch in anderen Sprachen ein Begriff entspricht, z.B. iş yeri ‹Arbeitsplatz›. Diese Methode war offenbar sehr produktiv, sie hat ihre Spuren auch in anderen Balkansprachen hinterlassen. Sie ist aber auch effektiv, weil sie die Deklination umgeht und mit einfachsten Mitteln neue Wörter und Begriffe produziert. Und sie ist letztlich einfach, weil sie alles auf eine vollkommen plausible Weise miteinander verbindet.
    Türken haben also klar ein schwächeres Kasus-Bewusstsein als deutsche Sprecher. Es wird weiter dadurch geschwächt, dass es keinen Artikel wie im Deutschen gibt,[ 5 ] der den Kasus noch einmal anzeigen könnte wie in deutsch des Tisches . Endungen sindalso im Türkischen das einzige Mittel, einen Kasus überhaupt anzuzeigen, während das Deutsche ihn oft gleich zweimal, dreimal anzeigt: de s Mann es ; de r schön en Frau en . Diese ziemlich aufwendige Methode ist schon deshalb im Türkischen nicht möglich, weil Adjektive wie güzel ‹schön› überhaupt nicht mitdekliniert werden und auch keine Formen für das Geschlecht haben: güzel kadınlar ile ‹mit den schönen Frauen›.
    Deshalb gibt es im Türkischen auch keine regelhaften Entsprechungen in der Wortgruppe, wie sie für das Deutsche so typisch sind. Im Türkischen fehlt vollkommen die formale Verkettung zwischen den Satzteilen, wie sie die flektierenden Sprachen haben, und man mag annehmen: Wenn Türken Deutsch lernen, schenken sie den Regeln der Übereinstimmung in der Fremdsprache nicht mehr Aufmerksamkeit als unbedingt nötig. Das türkische Sprachwissen aus der Muttersprache sagt nämlich, dass man für eine erfolgreiche Verständigung so etwas wie Übereinstimmungen in einer größeren Wortgruppe nicht zwingend braucht. Dies ist für den Sprachenkontakt entscheidend: wo Kasus und Endungen ohnehin schwächeln, werden sie durch eine weitentfernte Sprache wie Türkisch umso schneller abgebaut. Wir werden sehen, dass auch noch andere Migrantensprachen hier ihr Scherflein beisteuern.
Das Türkische kennt auch keine Präpositionen
    Es gibt im Türkischen keine Präpositionen, und es mag einem wie Schuppen von

Weitere Kostenlose Bücher