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Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert

Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert

Titel: Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Hinrichs
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Unterschied ans Licht. Wir können ihn vorläufig so formulieren: Die Verbindung IST oder SIND, BIN oder SEID (die sogenannte ‹Kopula›) hat im Türkischen viel weniger Gewicht, ja sie kann auch ganz verschwinden. Wir werden später sehen, dass genau dieses Weglassen im Kiezdeutsch (ehemals ‹Türkenslang›) eine große Bedeutung erlangt. Sehen wir uns dies erst einmal genauer an:
    Das Türkische weist drei Tendenzen auf, die im Vergleich mit dem Deutschen die Kopula IST/SIND vor dem Prädikat schwächen oder ganz aussetzen.
    Die erste Tendenz ergibt sich zwanglos aus dem agglutinierenden Prinzip: Die Kopula kommt in einem vielsilbigen Wort immer erst an letzter Stelle: sinemada- dır ‹er ist im Kino›, o güzel dir ‹sie ist schön›, Afganistanda dır ‹er ist in Afghanistan› – d.h. sie ist schon akustisch und im Schriftbild nicht besonders präsent. Sie neigt auch im gesprochenen Satz dazu, reduziert und abgeschliffen zu werden. Im Prinzip wird sie eher intuitiv mitverstanden als wirklich ausformuliert . Auch hierzu trägt die erwähnte Vokalharmonie ihr Stücklein bei: Wenn alles irgendwie ähnlich klingt, kann man die letzte Silbe auch schon mal vernuscheln oder verschlucken.
    Und dies ist – zweite Tendenz – tatsächlich in vielen türkischen Konstruktionen der Fall: Oft wird IST in Minisätzen gleich ganz weggelassen, und zwar mit voller Absicht. Weil für IST/SIND im Satz nichts da ist, sprechen die Linguisten hier etwas umständlich von einem sogenannten ‹Null-Morphem›, also von einer Silbe, die gar nicht da ist ( _ ), aber trotzdem mitverstanden wird: Ali burada_ ‹Ali _ hier› = ‹Ali ist hier›; kahve tatlı_ ‹der Kaffee ist süß›; bizikletim bozuk _ ‹mein Fahrrad ist kaputt›; ben Suzan Akman _ ‹ich heiße/bin Suzan Akman›; fiyatlar çok yüksek _ ‹die Preise sind sehr hoch›, Ülkü evde değil _ ‹Ülkü ist nicht zuhause›. Und noch kleinere, unpersönliche Sätze verzichten ebenfalls auf das IST: Es ist heiß heißt hava sıcak ‹Wetter heiß›, oder einfach sıcak ‹heiß›. Alle diese Formen mögen ursprünglich aus der Sprechsprache stammen, sind aber auch im schriftlichen Standard vollkommen korrekt.
    Und ein drittes Feld kommt schließlich hinzu: Wenn man etwas nur vom Hörensagen weiß, fehlt in der 3. Person ebenfalls der IST-Ausdruck: Hasan gelmiş _ ‹Hasan _ gekommen› = ‹Hasan soll gekommen sein (sagt man)›; und nicht: * gelmiştir , was heißen würde: ‹ich weiß es ganz genau, dass er gekommen ist; ich habe es selbst gesehen ›. Viele Formen werden ganz regelmäßig so gebildet: almış_ ‹soll etwas gekauft haben›, unutmuş _ ‹hat’s wohl vergessen› usw. Daraus folgt für das grundständige türkische Sprachgefühl, dass die Kopula IST nicht etwas unbedingt Notwendiges ist und dass ihr Fehlen andererseits auch gut für Spezialeffekte ausgenutzt werden kann.
Kein Ausdruck für «haben»
    Das Türkische hat auch keinen Ausdruck für ETWAS HABEN, wie die Europäer und die Deutschen es von ihren Sprachen kennen: englisch I have a dream ; franz. J’ai un ami. Etwas haben oder besitzen wird türkisch auf die ‹orientalische› Weise ausgedrückt: BEI MIR (IST) ETWAS. Das kann man auch eine ‹lokativische› Ausdrucksweise nennen, weil nur der Ort des Besitzers genannt wird, aber nicht die Relation ETWAS HABEN. Auch dies ist etwas ganz Uneuropäisches und muss sich beim Sprachkontakt mit europäischen Sprachen auswirken, und sei es nur dadurch, dass die ‹deutsche› Ausdrucksweise für sich erst einmal geschwächt wird. Türkisch HABEN sieht im einzelnen so aus:
    â€“ Bende para var . BEI MIR GELD ES-GIBT = ‹Ich habe Geld.›
    â€“ Ali’nin kız arkadaşı var . ALI-DES MÄDCHEN-FREUND-SEIN ES-GIBT = ‹Ali hat eine Freundin.›
    â€“ Arkadaşımında çok vakti var . ‹Mein Freund hat viel Zeit.›
    In der negativen Variante wird yok ‹es gibt nicht› verwendet:
    â€“ Benim sözlüğ üm yok . ‹Ich habe kein Wörterbuch.›
    Das Modell mit var ‹es gibt› und yok ‹es gibt nicht› – sogenannte ‹Existenzausdrücke› –

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