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Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert

Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert

Titel: Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Hinrichs
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nähere Bestimmung (‹Determinierung›) muss durch andere Mittel ausgedrückt werden, z.B. durch Pronomen ( ėtot dom ‹dieses Haus›). Das allein schon erklärt die typisch ‹slavischen› Fehler vom Typ hab ich _ Auto gekauft : Sprecher des Russischen haben natürlicherweise kein Gefühl für einen Artikel, und deshalb ist der ganze Bereich des Artikels für russische Deutschlerner ein endloses Minenfeld. Russen wie auch alle Sprecher von artikellosen Sprachen sind beim Erlernen des deutschen Artikels in einer hoffnungslos unkomfortablen Situation. Und die Werbespots der Box-Brüder Klitschko oder die Interviews des Schriftstellers Wladimir Kaminer, die mit diesem Manko spielen, sind hier nicht wirklich ein Trost. Für russische Migranten hat der deutsche Artikel also keine große Bedeutung.
Zum Bau des Satzes: kein SEIN und kein HABEN
    Auffällig für das europäische Ohr ist, dass es kein Hilfsverb gibt wie etwa HABEN in deutsch ich habe geschrieben oder SEIN wie in serbisch ja sam napisao . Es ist dies ein weiteres Merkmal, das das Russische von den europäischen Sprachen absetzt. Das Fehlen der ‹Kopula› ist vermutlich ein Erbe aus dem historischen Kontakt mit den finnischen Sprachen der Umgebung. Wir finden diesen ‹Ausfall› auch auf der Ebene des Satzes wieder:
    Im einfachsten Modell des russischen Satzes fehlt das Verbindungsstück, die ‹Kopula›. Wir waren diesem Phänomen schon beim Arabischen, ansatzweise auch im Türkischen, begegnet. Zumindest im Präsens fällt der Ausdruck für IST immer aus: moj brat – vrač’ ‹mein Bruder IST Arzt›, pogoda – choroÅ¡a ‹das Wetter IST gut›, on – doma ‹er IST zuhause›. Dasselbe beim Verb im Perfekt: on _ napisal ‹er HAT geschrieben›. Im Schriftbild ‹vertritt› der Bindestrich sozusagen das fehlende Verbindungsstück – eine typisch russische ‹Leerstelle›. Auf den ersten Blick mag das Fehlen von gewohnten Satzteilen nicht besonders aufregend sein, denn in vielen Umgangssprachen werden einfach mal Satzteile weggelassen, weil sie sich von selbst verstehen. So kommt das in vielen Sprachen Europas vor, ist dann aber oft nicht hochsprachlich, sondern irgendwie umgangssprachlich, so z.B. im
    Englischen: _ Ever met a man who doesn’t hide newspapers? (_ = Did you)
    Deutschen: _ Wohl noch nie ’nen Menschen bei der Arbeit gesehen? (_ = Du hast)
    Serbischen: pa kupio _ par stvari pa otiš’o _ ne znam gde. (_ = je (Hilfsverb))
    â€¹Und dann hat er so’n paar Sachen gekauft und weg war er wieder weiß-ich wohin.›
    Man darf aber nicht vergessen, dass diese Lücke im Russischen ganz und gar systematisch ist und sehr oft – quasi in jedem Satz auf die eine oder andere Weise – vorkommen kann. Sie ist vollkommen normal, und das ist einfach eine andere Qualität: Es ist dieser Umstand, der dem Satzbau und der russischen Kommunikation zuweilen einen wirklich exotischen Anstrich gibt. Der Züricher Slavist Daniel Weiss spricht hier plastisch von einer «Faszination der Leere», die das Russische präge.
Kein HABEN: bei mir ist ein Buch
    Und es gibt noch ein weiteres Feld, auf dem die ‹Fremdheit› des Russischen sich manifestiert: Auch bei der Formulierung von einfachen Besitzverhältnissen weicht das Russische erheblich von der europäischen Norm ab. ‹Ich habe ein Buch›, ‹ich habe einen Bruder›, ‹ich habe Angst› – solche einfachen Sätze weisen im Russischen ebenfalls eine leere Stelle im Prädikat auf. Das russische Modell ist offenbar direkt aus einer finnischen oder turksprachigen Quelle übernommen worden: U menja kniga ; u ego brat ; u ee strah heißt wörtlich übersetzt: ‹bei mir ist ein Buch›, ‹bei ihm ist ein Bruder›, ‹bei ihr ist Angst› = ‹ich habe ein Buch› etc. In der negativen Variante heißt u menja knigi net ‹bei mir ist des Buches nicht› = ‹ich habe das Buch nicht›. Dies kann man ein ‹lokativisches› Modell nennen, weil es im Prinzip die auch in Turksprachen vorkommende Ausdrucksweise bende kitabım var ‹bei mir gibt es ein (mein) Buch› = ‹ich habe ein Buch› imitiert. Man darf nicht vergessen, dass diese Satzmuster so gut wie in jeder Äußerung vorkommen und im russischen Sprachgefühl ein

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