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Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert

Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert

Titel: Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Hinrichs
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Modul erzeugen, das genau dort auf Leere eingestellt ist, wo das Englische oder Deutsche verbindlich eine besetzte Stelle haben. Als Sprache, die schon geographisch weit über den europäischen Kreis hinauslangt, hat das Russische auf vielen Gebieten eine Vorliebe für ‹uneuropäische› Konstruktionen entwickelt. Auffällig ist obendrein ein Hang zum Unpersönlichen, zu unpersönlichen Satztypen, denen das Subjekt oder der aus dem Deutschen geläufige ES-Ausdruck fehlt – wenn man will, auch hier eine Leerstelle im Satzbau: cholodno ‹es ist kalt›, stydno ‹du solltest dich schämen!›, udivitel’no ‹das ist ja komisch›, govorjat ‹man sagt, es heisst›, morozit ‹es friert›, nravitsja ‹es gefällt mir›.
    Dies alles entfernt das Russische nicht nur von den Sprachen Kerneuropas, sondern auch vom Deutschen.
Zum russischen Verb
    Das russische Sprachgefühl ist wahrscheinlich primär auf Nomen eingestellt, denn das russische Verb weist oft Vereinfachungen auf. So kennt es nur drei Zeiten, und das ist im internationalen Vergleichsmaßstab extrem wenig. Es ist das Paradebeispiel für maximale Reduktion in diesem Bereich. Andere Sprachen (Bulgarisch,Englisch) leisten sich bis heute um ein Dutzend grammatische Zeiten (und sind ziemlich stolz darauf). Strenggenommen sind es sogar nur zwei Zeiten, die eigene grammatische Formen haben: Gegenwart und Vergangenheit.[ 20 ] So wird der Formenreichtum der Wörter auf der Ebene des Verbs wieder etwas ausgeglichen. Es gibt zwar eine Handvoll Konjugationsklassen, man kann sich aber am Grundmodell
    delaju – delaeš’ – delaet – delaem – delaete – delajut ‹ich mache – du machst, er macht … etc.›
    gut orientieren. In der Vergangenheit wird es noch einfacher: ja napisal ‹ich habe geschrieben›, ty napisal/on napisal/ona napisala // my, vy, oni napisali ‹wir, ihr, sie haben geschrieben›.
    Ein Bereich jedoch ist nicht unbedingt kompliziert, aber typisch russisch: Alle Verben haben zwei Formen, treten in zwei ‹Aspekten› auf. Man kann die russische Grammatik, die russische Weltsicht und das russische Migrantendeutsch nicht wirklich verstehen, wenn man nicht den Verbalaspekt im Grundzug versteht.
    Der ‹perfektive› Aspekt on pobedil ‹er siegte› stellt eine Handlung dar als abgeschlossen, einmalig und punktuell; das entspricht etwa dem deutschen Perfekt: er hat gestern gesiegt .
    Der imperfektive Aspekt stellt dieselbe Handlung als unabgeschlossen in Raum und Zeit, als mehrmalig und verlaufend dar: on pobeždal ‹ er siegte wiederholt ›.
    Im Beispiel:
    â€“ Kasparov pobedil i srazu vozvratilsja v Moskvu . ‹Kasparov siegte und kehrte sofort nach Moskau zurück.› (perfektiver Aspekt)
    â€“ Kasparov v takich slučajach obyknovenno pobeždal . ‹Kasparov pflegte in solchen Fällen für gewöhnlich zu gewinnen.› (imperfektiver Aspekt)
    Ein sehr effektiver Zug des Russischen ist, dass mit dem perfektiven Aspekt auch gleichzeitig das Futur ausgedrückt werden kann. Man nimmt einfach die Gegenwart der perfektiven Verben: on napiÅ¡et ‹er wird schreiben›, ona ėto sdelaet ‹sie wird es tun›.
Russische Umgangssprache
    Zwischen dem offiziellen, geschriebenen Standard und der spontan gesprochenen Umgangssprache können große, ja sehr große Unterschiede bestehen. Diese Kluft ist viel größer als in anderenSprachen, viel größer auch, als man es nach dem common sense erwarten sollte. Sie sind so groß, so einschneidend, dass man in der russischen Linguistik schon von einem ‹zweiten Russisch›, einer zweiten mündlichen Norm spricht, die in keiner Grammatik steht: eine Art Sprech-Russisch. Um es in einem Satz zusammenzufassen: Auch die Umgangssprache der Russen neigt dazu, auf allen Ebenen entscheidende Bestandteile wegzulassen und dadurch die sprachliche Struktur zu ‹durchlöchern›. Sie setzt damit die Anlage der Hochsprache in der Mündlichkeit weiter fort. Über diese zweite «Faszination der Leere» entstehen aber nicht nur Lücken im Satzgewebe, sondern eine zweite Norm, die bald ein Eigenleben führt.
    â€“ Vam _ kuda? ‹Ihnen _ wohin› = ‹Wohin wollen Sie?›
    â€“ _ ego ne zastaneÅ¡ ’ ‹ihn wirst du nicht antreffen›.
    â€“ _ ne _ uveren _ _

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