Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert

Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert

Titel: Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Hinrichs
Vom Netzwerk:
(im Umkehrschluss: die Förderung von Nichtübereinstimmung). Diese sogenannte ‹Nonkongruenz› ist der Grundzug des GAD, sein Alleinstellungs- und Identifikationsmerkmal, das das ganze Milieu des GAD begründet. Wir kommen darauf zurück.
    Festzuhalten ist pauschal:
    Die Merkmale des Gastarbeiterdeutsch stellen eine radikale Vereinfachung der deutschen Grammatik dar, sozusagen ihre extremste Form bis hin zur Auflösung grammatischer Strukturen. Fast alle Vereinfachungen kehren jedoch auch später wieder: im ‹anderssprachigen› Migrantendeutsch, in den späteren Ethnolekten von Migranten, im ‹Akzent› der Migranten und auch – in abgeschwächter oder sublimierter Form – im Sprachwandel des modernen Neudeutschen.
15. DER ‹AKZENT› DER MIGRANTEN
    Das Deutsch der Migranten und das Deutsch der Nichtmigranten – beide Sprachformen leben von Anfang an in einem engen Verhältnis, das man in der Biologie eine ‹Symbiose› nennen würde.Sie beeinflussen sich permanent gegenseitig – eigentlich eine triviale Erkenntnis. Ein wichtiges Phänomen in diesen Prozessen ist der sogenannte ‹Akzent› der Migranten.
    Wenn man von ‹Akzent› spricht, dann meinen die Leute meist eine vom Normaldeutschen abweichende Lautung, also etwas Akustisch-Phonetisches. Hier sind die Abweichungen am auffälligsten und gehen sofort ins Ohr. Endlos sind die Berichte und Klagen von Migranten, dass sie aufgrund ihres Akzentes im öffentlichen Leben stillschweigend in eine Schublade gesteckt werden und Nachteile in Kauf nehmen müssen, z.B. im Kaufhaus oder bei der Wohnungssuche. Vorzeigebeispiele sind das gerollte r fast aller Migranten, das berüchtigte isch , die Aussprache von Maß oder Lohn als Mass und Lonn oder die Beibehaltung der muttersprachlichen Satzmelodie. Der ‹Akzent› kommt immer zustande durch das, was die Physiker eine Interferenz (‹Überlappung, Überschneidung›) nennen: Das gelernte Lautsystem kollidiert mit dem der fremden Landessprache, und das hinterlässt Spuren, stärkere oder schwächere – je nach Talent, Fleiß, Zeit und Motivation. Deshalb müsste man ‹Akzent› eigentlich auch für die restliche Grammatik verwenden: also auch für ‹Fehler› in der Deklination, im Satzbau, für Bedeutungsübertragungen bis zum Situationsverhalten, bei dem alles Sprachliche in den kulturellen Hintergrund übergeht. Auch hat der Akzent eine ganz ökonomische Seite: mit möglichst geringem Aufwand den maximalen (kommunikativen) Effekt erzielen. Warum sollte z.B. der ungarische Wirt einer Fußballkneipe perfektes Deutsch sprechen, wenn sein ‹Akzent› auch noch von allen Gästen als willkommener Farbtupfer und Botschafter des internationalen Fußballs wahrgenommen wird?
    Es besteht nun kein vernünftiger Zweifel, dass es einen türkischen, arabischen, russischen etc. Akzent gibt – also typische Abweichungen im Deutschen, die sich aus den Eigenheiten der Migrantensprache erklären. Genauso wie viele Deutschsprecher einen immensen Akzent im Türkischen und Russischen produzieren und dadurch in Izmir oder Petersburg sofort auffallen. Und letztlich bleibt die jeweils andere Grammatik als ganze immer unerreichbar, weil sie bei einsprachigen Muttersprachlern in den ersten vier Lebensjahren unangreifbar fest eingespeichert wird. Der Strukturalist Roman Jakobson hat das schon vor langer Zeit nachgewiesen.
    Eigene und fremde Aussprache können sich zuweilen ‹beißen› und bleiben dann für die Mehrheit der Sprecher inkompatibel:
    Perser haben eine unüberwindliche Barriere gegen Konsonantencluster am Anfang des Wortes: Stefan, Sport, stagnieren werden immer als Estefan, Esport, estagnieren etc. realisiert.
    Auch Türken schieben zwischen deutsche Konsonantengruppen oft einen Stützvokal ein: K u reuzberg ( Kreuzberg ), sch i wer ( schwer ), Kaiser i damm ( Kaiserdamm ), Sch i nitzel etc.
    Russen haben eine natürliche Aversion gegen deutsche Umlaute und realisieren sie als u oder o mit Spuren an den vorhergehenden Konsonanten wie in mjule ( Mühle ) oder Gjotje ( Goethe ).
    Jugoslaven übertragen oft ihre ‹singenden› Töne auf deutsche Wörter wie tr a gen, siegen, suchen .
    Die Liste ist im Prinzip unbegrenzbar. Andererseits wiederholt sich vieles beim ‹deutschen› Akzent ganz unterschiedlicher Migranten.

Weitere Kostenlose Bücher