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Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert

Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert

Titel: Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Hinrichs
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einem fast muttersprachlichen Umgangsdeutsch 2013. Die Behauptung der Mannheimer Sprachsoziologin Inken Keim, es gebe kein Migrantendeutsch ,[ 1 ] ist von einer seltsamen Art sozialer Political Correctness inspiriert. Jeder, der auch nur eine kurze Zeit mit Migranten gelebt hat, wird aus eigener Erfahrung bestätigen, dass es viele Migrantendeutschs gibt und dass es auch so etwas gibt wie einen ‹harten Kern›, einen gemeinsamen pool von Zügen, die die vielen Typen von Migrantendeutsch untereinander verbinden, sie sogar untereinander kompatibel machen und sie vom Standarddeutschen abgrenzen – z.B. bei dem eigentümlichen Gebrauch der deutschen Artikel.
    Im Grunde sind alle diese Punkte schon für sich allein schwerwiegend genug, als dass man sie einfach außen vor lassen könnte. Um wenigstens hier kein vollkommen leeres Loch zu lassen, haben wir uns dafür entschieden, zunächst wenigstens einige Daten zum Gastarbeiterdeutsch und zum ‹Akzent› der Migranten zu sammeln und nachzusehen, ob einiges davon in Zusammenhang mit den Veränderungen im Neudeutschen stehen könnte.
14. DAS GASTARBEITERDEUTSCH DER 1970ER JAHRE
    Â«Unter Gastarbeiterdeutsch wird in der Spracherwerbsforschung das ungesteuert erworbene Deutsch von Migranten verstanden, die von Mitte der 50er bis Anfang der 70er Jahre als Gastarbeiter nach Deutschland kamen.» (Inken Keim) «Die meisten Gastarbeiter kamen aus Dörfern unterentwickelter Regionen und ihre Ziele waren primär ökonomischer Natur. (…) Die erste Generation der Einwanderer, die seit Anfang der 60er Jahre nach Deutschland kamen, waren meist alleinreisende Männer mittleren Alters, die für einen begrenzten Zeitraum nach Deutschland einreisten, um Industriearbeit zu verrichten. Es waren Italiener, Portugiesen, Griechen, Türken und Jugoslaven mit einfacher Schulbildung, oft ungelernte Arbeitskräfte. Ihre Motivation, sich für ein paar Jahre Deutsch anzueignen, ohne Perspektive auf Integration,war denkbar gering. Über 90 Prozent von ihnen hatten nie einen Fremdsprachenunterricht genossen und natürlich auch keinen Deutschunterricht, weder im Herkunftsland, noch in Deutschland. (…) Am Arbeitsplatz und im Wohnviertel haben sie sich recht und schlecht gebrochene, als ausländisch erkennbare Varianten des Deutschen angeeignet. Dieses ‹Gastarbeiterdeutsch› reichte dazu aus, elementare Kommunikation zu ermöglichen. (…) Anfangs wurden an (den) Arbeitsplätzen Dolmetscher für die Gastarbeiter eingesetzt (…). Diese Entwicklungen haben den Druck, Deutsch zu lernen, erheblich abgeschwächt und dazu beigetragen, dass (…) viele Einwanderer nur schlecht und mit vielen Fehlern Deutsch sprechen. (…) Die meisten Gastarbeiter erwarben ihre Deutschkenntnisse in ihrer Arbeitswelt, so dass das beschränkte Sprachwissen auch in ihrem Alltag ausreichte.» (Aksoy 2005, 10f.)
    Ziemlich gut erforscht sind das türkische (Keim 1978) und das jugoslavische Gastarbeiterdeutsch (Orlović-Schwarzwald 1978). So gut wie unerforscht geblieben ist bis heute das portugiesische, italienische oder griechische Gastarbeiterdeutsch (GAD), aber es ist anzunehmen, dass diese dieselben Merkmale aufweisen. Unerforscht ist weiter, ob die möglichen ‹Gastarbeiterdeutschs› Übernahmen aus ihren Herkunftssprachen haben können, wie etwa den Ausfall von Präpositionen im türkischen GAD, oder ob dies universale ‹Pidgin›-Züge sind, die bloß zufällig mit einzelsprachlichen Strukturen zusammenfallen. Bis auf weiteres kann man annehmen, dass GAD-Züge im Prinzip unabhängig von der Herkunftssprache auftreten, dass aber im Einzelfall auch eine Interferenz mit einer Herkunftssprache diskutiert werden kann.
    Wie auch immer: GAD ist in jedem Fall der sprachliche Hintergrund für spätere Varianten des Migrantendeutsch, z.B. des türkischen «Powergirl»-Slangs oder des Kiezdeutsch, weil so gut wie alle Züge des GAD in ihnen – massiv oder in Spuren – wiederkehren. Denn wenn es (individuelle) Stufen des GAD gibt, die in die Nähe des Standarddeutschen gelangen können (Inken Keim), ist ein gegenseitiger Einfluss, ja eine Interaktion , so gut wie sicher. Dirim/Auer (2004, 218f.) nennen denn auch für multikulturelle Jugendslangs des Jahres 2004 die alten GAD-Klassiker: fehlende Artikel, Präpositionen und Pronomen; falsche Präpositionen,

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