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Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert

Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert

Titel: Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Hinrichs
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Gerolltes r kann leicht auf ‹Migrant› hinweisen, obwohl es auch eine deutsche Aussprachevariante ist, z.B. in Bayern. Trotzdem klingt gerolltes r immer ziemlich migrantisch, denn fast alle Migrantensprachen haben es.
    7. Wenn Migranten die Rechtschreibung als wörtliche Aussprache-Empfehlung missverstehen, entstehen Akzente von der Art Gab e l, Fehl e r, Mensch e n oder nehm e n ( nehm[εn] ), während die Deutschen e und er einfach verschlucken.
    8. Das Deutsche hat zwei ch -Laute, einen vorn ( mich ), einen hinten ( Sache ). Fast alle Migrantensprachen sprechen aber ein mittleres ch , was sich für deutsche Ohren fremd oder irgendwie ‹böhmisch› anhört: Man spreche suchen oder weichen am mittleren Gaumen aus.
    9. Das ‹europäische› l des Deutschen ( Licht, Lachs ) sprechen Migranten gern weiter hinten (‹dunkel›) aus, so die Araber ( wallah !) und die Albaner ( llampa ); oder gleich viel weiter vorne, so die Russen ( leto ‹Sommer›) oder die Serben ( Ljiljana ).
    10. Unaussprechbare Konsonantengruppen werden vereinfacht. So kennen die meisten Migrantensprachen den deutschen Laut in si ng en nicht (in der Umschrift [η]). Er wird ersetzt durch die Kombination/ng+g/, sodass dann etwas wie singgen, Jungge, Klängge gehört wird, also mit deutlich hörbarem zweitem g . Desgleichen wird die stimmlose Variante in Manko, sinken aufgelöst in/n+k/und man hört etwas wie Man-ko oder sin-ken .
    Dies ist ungefähr die Spitze des Eisbergs. Es gibt sicher viel mehr Fallen, als der Durchschnittsmigrant sich träumen lässt, weil eben die Aussprache oft vom Schriftbild abweicht. Diese Züge sollte man aber mindestens kennen, wenn man den Migrantenanteil an den deutschen Lautveränderungen einigermaßen einschätzen will.[ 6 ] Sie sind am weitesten verbreitet und ‹verbinden› die Migrantendeutschs. Vieles wird man mittlerweile auch schon im Deutsch von deutschen Muttersprachlern wiederentdecken. DiePhonetik ist aber nur der auffälligste Sektor. ‹Akzent› erstreckt sich, wie erwähnt, auf die gesamte Grammatik.
Zum ‹grammatischen› Akzent
    Typische Minenfelder der deutschen Standardgrammatik für Migranten sind: der Artikel, das Geschlecht der Substantive, die exakte Kongruenz der Satzteile, die starken Verben, die so deutschen Komposita vom Typ Elternsprechtagsversammlung , die höheren Zeiten (z.B. Plusquamperfekt) und spezielle Modi (z.B. Konjunktiv). Es kann kein Zufall sein, dass es in etwa diese Kategorien sind, die in der Fremdsprachendidaktik ‹Deutsch als Fremdsprache› als die typischen Problembezirke der meisten deutschlernenden Migranten genannt werden (Leontiy 2013). Besonders subtil ist, dass alle diese Felder auch in der Sprache der Deutschen ohne Migrationshintergrund Federn lassen müssen und auf dem Rückzug sind.
    Ohnehin braucht die Umgangssprache immer nur einen Bruchteil dessen, was die Standardgrammatik auffährt. Die Unsicherheiten, die schon bei Deutschen unübersehbar sind, erhöhen wiederum die Schwankungen auf Migrantenseite, weil letztlich nur noch die Schulgrammatik ganz genau über die richtigen Formen Auskunft geben kann (wenn sie jemand danach befragen würde). Es schaukelt sich auf. Niemand kann hier letztlich schon die Ursachen ganz exakt verteilen: Mündlichkeit, Mehrsprachigkeit, Sprachkontakt, auch Rückeinfluss des Deutschen auf das Migrantendeutsch – alles wird seinen Anteil haben innerhalb einer subtilen Wechselwirkung zwischen Muttersprachlern und Migranten.
    Mit Sicherheit kann man sagen: Alle Kategorien, die schon beim Vergleich mit anderen Sprachen als ‹schwierig›, als ‹typisch deutsch› oder eben als ‹schriftsprachlich› gelten, fallen am ehesten Veränderungen anheim. Wir fassen die wichtigsten sieben Felder zusammen (und wissen, dass jede Liste unvollständig bleiben wird):
    1. Kein Migrant sollte ernsthaft darauf hoffen, den deutschen Artikel wirklich zu beherrschen – das wäre zumindest nicht sehr realistisch. Es ist ein Kampf gegen Windmühlenflügel, weil der Artikel meistens zufällig ist, weil es drei Varianten gibt und weil sich sein Gebrauch auch bei den Deutschen langsam ändert. Zudem ist das Problem mindestens zweigleisig: Man muss die richtigeArtikelsorte erwischen ( das Buch/ein Buch/_ Bücher ) und man muss die richtige Artikelform treffen: der/die/das Buch und dann oft

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