Mundtot nodrm
Wieder die Arme grüßend erhoben, entfernte er sich langsam von dem Mikrofon und gab es für eine Dame frei, die von der Seite auf das Holzpodest gestiegen war. Sie wartete noch ein paar Sekunden, bis die Menge wieder zur Ruhe gekommen war, und sagte mit fester Stimme: »Danke. Danke, liebe Freunde. Ihr Beifall ist uns Ansporn, unsere gemeinsame Sache weiter in das Land hinauszutragen. Und Steffen Bleibach verspricht euch, seinen Weg beharrlich und konsequent weiterzugehen.« Sie warf lässig ihre schulterlangen braunen Haare nach hinten und wiederholte energisch das Motto, unter das die Bewegung alle ihre Kundgebungen gestellt hatte: »Die Zeit ist reif. Jetzt oder nie.«
»Wir sind dabei!«, skandierten die Zuhörer vieltausendstimmig. Das gleiche Ritual wie seit Wochen. Aus der vordersten Reihe lächelte ihr eine großgewachsene Wasserstoff-Blondine entgegen. Es schien ihr, als habe sie die Frau bereits gestern in Konstanz gesehen.
6
Der Blick ging zur Donau hinab, die an einem Novembertag wie heute grau und trist dahinfloss. Aus der Entfernung war keine Bewegung zu erkennen – so, als sei der Fluss nichts weiter als ein großer Wassergraben. In Wirklichkeit aber schwoll er hier erst richtig an. Denn durch die einmündende Iller wurde die Wassermenge der Donau meist nicht nur verdoppelt, sondern oft sogar noch um ein zusätzliches Drittel vermehrt. Durchschnittlich flossen dann 120 Kubikmeter pro Sekunde in Richtung Schwarzes Meer. Patrick Moser konnte manchmal minutenlang am großen Fenster seiner Villa stehen, die sich an den Südhang schmiegte, und gedankenversunken in die Landschaft hinausblicken, in der sich im Laufe der letzten Jahrzehnte die Zivilisation gnadenlos dem großen Fluss genähert hatte. Er selbst – das musste er sich in solchen Momenten eingestehen – hatte mit seinem Firmenkomplex ein paar Kilometer stromaufwärts ebenfalls zur weiteren Zersiedelung der Donau-Auen beigetragen.
Die attraktive Frau, die in einem Ledersessel saß und das Cocktailglas in der Hand betrachtete, gab sich als Dame von Welt. »Er kommt an bei den Menschen«, resümierte sie ihr vorausgegangenes Gespräch. »Er hat Charisma, er ist intelligent.« Joanna Malinowska, in einem kleinen Nest bei Warschau geboren, aber in Deutschland aufgewachsen und längst deutsche Staatsbürgerin, hob ihren Blick, um den Mann im matten Gegenlicht des tristen Tages zu mustern. Ihr Gegenüber, der erfolgreiche Ulmer Unternehmer Patrick Moser, leicht angegraut, aber sportlich und braun gebrannt, Mitte 50 und Besitzer einer Jacht im kroatischen Porec, drehte sich zu ihr. »Natürlich ist er das, intelligent«, wiederholte er. »Intelligent und deshalb gefährlich.« Moser hatte seine schwarze Lederjacke aufgeknöpft und kam zu seinem Sessel zurück. »Keine Dumpfbacke, keiner von denen, die hohlköpfig daherreden.« Er zögerte und setzte sich. Auf dem Tisch stand sein halb geleertes Cocktailglas.
Joanna schlug ihre langen Beine, die in enge Designer-Jeans gezwängt waren, provokativ übereinander und strich sich mit der linken Hand durch die hellblonden Haare, die bis zu den Ellbogen reichten. »Gewiss nicht«, erwiderte sie ruhig, »und diese Einschätzung teilen sehr viele Ihrer Kollegen, Herr Moser.« Sie sprach ein nahezu perfektes Hochdeutsch mit leicht osteuropäischem Einschlag. Vermutlich polnisch, dachte Moser. Er hatte die Frau, die er auf Ende 30 schätzte, bei einer Tagung des mittelständischen Unternehmerverbandes vor über einem Jahr in Düsseldorf kennengelernt. Sie war damals angeblich Pressesprecherin dieser Organisation gewesen und gab sich nun als die Verantwortliche für die Kooperation der einzelnen Mitgliedsunternehmen aus. Seit sich in dem Verband immer mehr Kritiker zu Wort meldeten, die sich um die politische Zukunft Deutschlands sorgten, vor allen Dingen aber um den Erhalt des bisherigen Wirtschaftssystems, sei sie bemüht, ein Stimmungsbild zu recherchieren, erklärte sie. Ende der Sommerferien habe sie damit begonnen, quer durch Deutschland zu reisen und unzählige Mitgliedsunternehmen zu besuchen. Dabei fühle sie sich in ihrer Einschätzung bestätigt, dass eine starke Mehrheit Bleibach als potenzielle Gefahr für die Stabilität des Landes betrachte. Wenn ihre Termine es zuließen und er gerade in ihrer Nähe eine Kundgebung veranstalte, besuche sie sogar diese Massenveranstaltungen, berichtete sie weiter.
»Es gab auch gestern hier in Ulm wieder einen gigantischen Auflauf«, murmelte Moser und
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