Munroys & Makenzies Bd. 1 - Der Ruf der Highlands
aufgeschnitten hat und dann erst ertrunken ist. Ich glaube inzwischen auch, dass es Unsinn ist. Niall hätte es mir nicht verschwiegen.«
Lili blickte Dusten in die Augen. Ein Schatten legte sich über sein Gesicht.
»War es wirklich so?«, fragte Lili nach einer Weile.
Dusten nickte.
»Und stimmt es auch, dass Isobel sie gefunden hat?« Lilis Stimme bebte.
»Die beiden, Caitlin und Isobel, haben oft gemeinsame Ausflüge auf die andere Seite des Flusses in den Wald hinauf gemacht. Und auf dem Weg von unserem Haus dort hinüber musste man außer dem Conon auch einen kleinen Bach überqueren. Bella kannte diese Stelle. Und hat ihre Mutter dort gesucht, nachdem diese von einem Fest anlässlich Großvaters Geburtstag, der zu seinen Ehren traditionell auf Scatwell Castle gefeiert wird, fortgelaufen war …«
»Warum ist sie fortgelaufen?«
»Das kann ich dir beim besten Willen nicht sagen. Ich kehrte an jenem Tag von einer Reise aus London zurück. Jedes Jahr zur Geburtstagsfeier unseres Großvaters Angus habe ich zufällig wichtige Termine auswärts.«
Dusten zwinkerte Lili verschwörerisch zu. Sie lächelte verstehend.
»Ich war gerade beim Auspacken, da kamen sie zu mir, weil sie Isobel bei mir vermuteten. Aber sie war nicht da. Und dann begleitete ich die anderen auf der Suche nach ihr, und wir fanden sie unten am Bach …«
»Und da war sie bei ihrer toten Mutter? Das ist grausam.«
Dusten nickte. »Sie hat sich lange nicht davon erholt. Aber ich bin überzeugt, sie liebt dich wirklich und hat nur wahnsinnige Angst um dich. Dass du ebenfalls eines Tages verschwinden könntest wie ihre Mutter.«
»Ich werde bei ihr bleiben. Komme, was da wolle«, seufzte Lili.
»Dann schwörst du, uns nicht gleich wieder zu verlassen?«
»Wie kommst du denn darauf?«
»Ich habe es vorhin in deinen Augen gelesen. Du hast dir heute bei Tisch gewünscht, sehr weit fort von hier zu sein. Und wenn ich Isobel nicht so sehr lieben würde, ich wüsste nicht, ob ich dir nicht einen ganz anderen Rat geben müsste, der da lautet: Geh zurück! Du passt nicht auf Scatwell Castle.« Er blickte ihr tief in die Augen. »Du liebst meinen Cousin, oder?«
Er legte ihr zärtlich die Hand auf den Arm.
Diese Frage und vor allem die Berührung, die Lili wie ein Blitz traf, kamen so plötzlich und unerwartet, dass sie rot wurde. Sie wusste nicht, was sie noch denken sollte. Liebte sie Niall wirklich genug, um das hier alles klaglos zu ertragen? Dusten hatte doch vollkommen recht. Hatte sie nicht vorhin tatsächlich mit dem Gedanken gespielt, auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden? Nachdem ihr der Mann, in den sie sich in Edinburgh verliebt hatte, plötzlich so entsetzlich fremd geworden war? Doch das würde sie Dusten um keinen Preis verraten.
Dusten musterte sie immer noch fragend. Lili war ihm eine Antwort schuldig geblieben.
Sie atmete ein paarmal tief durch. »Ja, ich liebe ihn. Und ich liebe seine Tochter. Ich glaube, ich werde das alles meistern. Und eines Tages gar nicht mehr fortwollen. Die beiden sind die Familie, nach der ich mich immer gesehnt habe. Und wer weiß, vielleicht wird unsere Familie noch wachsen«, erwiderte sie steif, bevor sie ebenso förmlich hinzufügte: »Gute Nacht, Dusten, schlaf gut. Und verzeih mir, dass ich dich ausfragen wollte. Ich bin etwas durcheinander von den vielen Eindrücken.«
Ohne seine Antwort abzuwarten, verschwand sie rasch im Zimmer und lehnte sich von innen gegen die Tür. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Sie blieb eine Zeit lang unbeweglich stehen, um ihre aufgewühlten Gedanken zu ordnen. Dusten berührte sie in einer Weise, die nicht sein durfte. Um dem Gedanken an ihn keinen weiteren Raum zu geben, versuchte sie, sich krampfhaft an ihre erste Begegnung mit Niall zu erinnern. Hatte sie nicht weiche Knie bekommen, als er ihr den Antrag gemacht hatte? War sie nicht auf der Stelle in den rot gelockten Mann aus den Highlands verliebt gewesen? Hatte sie nicht allein der Gedanke, dass sie aus verschiedenen Welten stammten, nach dem Tod der Mutter bewogen, den Antrag abzulehnen? Je mehr sie sich in diese Erinnerung ihres ersten Zusammentreffens draußen vor der Schule vertiefte, desto klarer wurde ihr, was sie zu tun hatte: Niall wieder unbeschwert entgegenzutreten, keine unliebsamen Fragen zu stellen und seinetwegen und nicht nur Isobels wegen hierzubleiben … und Dusten möglichst aus dem Weg zu gehen.
19
Inverness, Abend des 24. Dezember 1913
Ein zaghaftes Klopfen an der Tür riss
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