Munroys & Makenzies Bd. 1 - Der Ruf der Highlands
verzweifelt. Sag doch endlich etwas! Und wenn du mir nur versicherst: Liebes, im ersten Augenblick war es die Ähnlichkeit, die mich zu dir hinzog. Aber nun meine ich dich allein …
»Gute Nacht, Lili. Frühstück gibt es um acht Uhr.«
Sie biss sich auf die Lippen. Wie konnte er einfach so zur Tagesordnung übergehen? Sie wollte auf keinen Fall weinen, aber die Tränen warteten nur darauf, sich Bahn zu brechen. Wenn er die verblüffende Ähnlichkeit zwischen Caitlin und ihr leugnete, dann würde die Vergangenheit trotz aller gegenteiligen Beteuerungen an ihrer Beziehung kleben wie eine Schmutzschicht, die nicht mehr abwaschbar war. Dann würde Caitlins Geist ihr ständiger Begleiter sein. Bitte, sag, dass ich mehr für dich bin als eine neue Caitlin, bitte!
»Morgen zeige ich dir die Stadt«, versprach ihr Niall und verließ das Zimmer.
»Gute Nacht«, flüsterte Lili leise und ließ sich, kaum war sie endlich allein, auf die schwere samtene Überdecke des Bettes fallen. Sie war zu müde um sich auszukleiden. Wie ein Orkan tobten ihr die Erinnerungen an die Ereignisse des Tages durch den Kopf und wirbelten alles durcheinander. Schließlich wusste sie nicht mehr, was richtig und was falsch war. Sollte sie sich morgen mit Niall verloben oder flüchten? Sollte sie schweigen oder schreien? Hoffen oder resignieren? Sie war so aufgeregt, dass sie befürchtete, kein Auge zutun zu können. Irgendwann aber glitt sie in wilde Träume hinüber. Dort überfielen sie die Eindrücke des Tages in vielfältiger Gestalt. Sie träumte von unheimlichen Geistern, die sie in der Bell’s Wynd einmauerten, von Dämonen, die sie zusammen mit Craig und Shona durch tiefen Schnee verfolgten und denen sie bis zum Ufer eines Baches entkam, den Isobel gerade durchquerte und in dessen Mitte sie auf eine blutige Fratze stieß. »Miss Campbell, helfen Sie mir!«, schrie sie in Todesangst. Lili wollte zu ihr stürzen, doch eine eiserne Hand hielt sie zurück. »Das gehört sich nicht!«, brüllte Lady Caitronia. »Nicht bei den Munroys!« Lili wollte sich losreißen, denn am anderen Ufer erblickte sie Mademoiselle Larange mit dem Gesicht von Miss Macdonald zusammen mit Davinia, die ihr zuwinkten, doch sie vermochte sich nicht zu bewegen. Sie wollte nach Niall rufen, aber sie blieb stumm, denn sie wusste, dass er sie nicht hörte.
20
Inverness, 25. Dezember 1913
Lili lag schon lange wach, konnte sich aber nicht überwinden, das warme Bett zu verlassen. Im Zimmer war es eiskalt. Das Feuer im Kamin war über Nacht ausgegangen, und noch war es zu früh, dass jemand kam, um es neu zu entzünden.
Mitten in der Nacht war sie mit pochendem Herzen aus einem schrecklichen Traum erwacht. Da hatte das Feuer noch geglimmt, und Lili hatte sich rasch ausgezogen, denn sie war in voller Kleidung auf dem Bett eingeschlafen. Rasch war sie in das lange weiße Nachthemd geschlüpft und hatte das Licht gelöscht. Sie war allerdings nicht gleich wieder eingeschlafen, sondern hatte über ihren Albtraum nachgedacht.
Schmerzhaft erinnerte sie sich an das eine ganz deutlich: Niall hatte ihr nicht aus ihrer Not geholfen! Der Gedanke daran ließ sie auch jetzt am Morgen noch erzittern. Und schlimmer noch: Sie hatte ständig das Gefühl, es streife ihr ein kalter Hauch über das Gesicht, das als einziger Teil ihres Körpers nicht in die Bettdecke eingehüllt war. Sie fühlte sich so überreizt, dass sie an die Schauergeschichte denken musste, die Witwe Laird in der Dämmerung vor den staunenden Kindern der Gasse gern zum Besten gegeben hatte. Die Geschichte besagte, dass der Geist einer Miss Guthrie in der Bell’s Wynd hauste, nachdem ihr Mann ihren Liebhaber und sie getötet hatte.
Lili setzte sich auf. So weit kam es noch, dass sie sich einbildete, Caitlins Geist spuke in diesem Zimmer! Entschlossen zündete sie die Lampe auf dem Nachttisch an und sprang mit einem Satz aus dem Bett. Um nicht zu frieren, schlang sie sich ein Wolltuch um die Schultern und schlüpfte in Strümpfe und Schuhe. So war es auszuhalten. Erfreut stellte sie fest, dass neben dem Kamin ein Korb mit Holzscheiten und allen Utensilien zum Anzünden des Kamins bereitstand. Sie brachte das Feuer geschickt zum Lodern und wanderte im Zimmer auf und ab, bis sie vor dem Vertiko stehen blieb. Sie stutzte. Etwas war anders als gestern Abend, aber was es war, wollte ihr zunächst nicht einfallen. Bis ihr bewusst wurde, dass keine einzige Fotografie mehr auf dem Schrank stand. Und auch an der Wand, wo
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