Munroys & Makenzies Bd. 1 - Der Ruf der Highlands
mein Kind?« Alles lief vor Lilis innerem Auge ab, als wäre es gestern gewesen.
Die kleine Lili nimmt blitzartig die Hände von den schönen Postkarten, als habe sie sich daran verbrannt, und fährt herum, mit knallrotem Kopf und in der angstvollen Erwartung, Mrs Denoon werde sie dafür ausschimpfen, dass sie an ihren Schreibtisch gegangen ist, doch sie fragt nur: »Magst du die Postkarte?«
Mit hochrotem Kopf springt Lili auf und schämt sich ganz furchtbar. Sie möchte am liebsten im Erdboden versinken. Die Hände hält sie auf dem Rücken verschränkt, um zu zeigen, dass sie nichts geschenkt haben möchte. Sie stottert. »Ich … ich weiß auch nicht, warum ich sie aus dem Fach geholt habe. Aber ich finde Ihren Schreibtisch so wunderschön …« Mrs Denoon sieht sie freundlich an. Zu freundlich! »Du willst die Karte also wirklich nicht?« Lili schüttelt heftig den Kopf und überlegt, wie sie möglichst schnell den Rückzug aus Mrs Denoons Arbeitszimmer antreten kann.
»Ich liebe diesen Sekretär. Er ist ein Geschenk meines Mannes zur Hochzeit.« Die hochgewachsene, vornehme blonde und dabei so warmherzige Frau sieht Lili freundlich an. Nicht wie eine Diebin, die sich unbefugt ihrem Eigentum genähert hat.
Sie deutet auf die vielen Fächer. »Wenn du magst, dann darfst du alle Schubladen aufziehen und die Fächer öffnen. Du wirst dich wundern, wie viele Verstecke es gibt.« Lili will ablehnen, weglaufen, aber die Siebenjährige kann der Verführung nicht widerstehen. Und schon ist sie mit Feuereifer dabei, das Innenleben des Schreibtisches zu erkunden. Sie hat immer noch hochrote Wangen. Nicht mehr vor Scham, sondern vor Aufregung.
»Und was ist das für ein Türchen?«, fragt sie atemlos, nachdem ein einziges Fach keinen Griff zum Öffnen zu haben scheint, sondern nur ein kleines Loch.
»Das, mein Kind, ist mein Geheimfach. Schau nur hinein!«
»Aber wie denn?«
»Das musst du selbst herausfinden. Denk gut nach! Wie mag das Fach wohl zu öffnen sein?«
»Mit einem Schlüssel.«
»Sehr gut.«
»Aber wo könnte der sein?«
»An einem Ort, wo ihn keiner vermutet.«
»Richtig.«
Lili entsann sich bis zum heutigen Tag, wie aufgeregt sie damals gewesen war, als ihr Blick schließlich auf eine leere Blumenvase gefallen war. Und sie erinnerte sich an jedes einzelne Wort, an jede Geste.
Sie deutet auf die Vase.
»Ich würde den Schlüssel hier verstecken.«
»Dann schau doch mal nach.«
Mit zittrigen Fingern greift Lili in die Vase und ertastet auf dem Boden etwas Kaltes.
»Hol ihn nur heraus!«, ermutigt Mrs Denoon sie. Das lässt sich Lili nicht zweimal sagen. Voller Stolz zeigt sie den Schlüssel vor.
»Und nun prüf nach, ob er passt«, schlägt die Dame des Hauses lächelnd vor.
Lili starrt Mrs Denoon staunend an, bevor sie den kleinen Schlüssel in das Schloss steckt und ihn einmal herumdreht. Sie ist wie im Fieber. Und tatsächlich, die Tür des Faches öffnet sich von Zauberhand, doch das Fach ist gähnend leer.
»Tja, ich habe leider keine Geheimnisse, die ich verstecken müsste«, lacht Mrs Denoon und streicht Lili über die dunkelblonden Löckchen.
Bei der Erinnerung an diese kleine Episode huschte Lili ein Lächeln über die Lippen. Sie wollte sich gerade vom Schreibtisch abwenden, als ihr Blick an einer Schale hängen blieb, die obenauf stand. Ohne zu überlegen, fuhr sie mit den Fingerspitzen durch die getrockneten Blätter, die völlig eingestaubt in dem Gefäß lagen.
Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, als sie den Schlüssel ertastete. Erschrocken zog sie die Hand zurück. Was tue ich bloß?, fragte sie sich, doch schon hatte sie nach dem Schlüssel gegriffen und betrachtete ihn versonnen. Er sah genauso aus wie jener zu Mrs Denoons Geheimfach. Sie wollte ihn verschämt zurücklegen, doch der Drang, herauszufinden, ob auch Caitlin ein geheimes Fach besessen hatte, war stärker als alle Skrupel. Noch einmal musterte sie die Fächer der Reihe nach. Eine Schublade, die nicht zu öffnen war, fand sie nicht und atmete erleichtert auf. Wahrscheinlich hätte sie nicht widerstehen können und das Fach geöffnet, obwohl sie genau wusste, dass es unrecht war. Lili wollte den Schlüssel gerade wieder unter den verstaubten Blättern verschwinden lassen, als ihr eine Schublade ins Auge fiel, die keinen Griff besaß, sondern nur ein winziges Schloss.
Lili atmete ein paarmal tief durch. Hin- und hergerissen zwischen moralischen Bedenken und dem unbändigen Verlangen, einen Blick in Caitlins
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