Munroys & Makenzies Bd. 1 - Der Ruf der Highlands
Caitlins Bild gehangen hatte, befand sich ein riesiger leerer Fleck. Das Ölgemälde war verschwunden.
Lilis Herzschlag beschleunigte sich, aber es war nicht der Gedanke an Geister, der sie erzittern ließ. Es war vielmehr die Tatsache, dass jemand diese Bilder aus dem Zimmer geschafft haben musste, während sie geschlafen hatte. Und da kam eigentlich nur einer infrage: Niall. Aber war er wirklich nachts in ihr Zimmer eingedrungen, um die Fotografien und das große Bild fortzuschaffen? Und vor allem: warum? Glaubte er, sie werde es nicht bemerken? Bildete er sich ein, auf diese Weise könne er die Ähnlichkeit zwischen Caitlin und ihr einfach aus der Welt schaffen? So jedenfalls würde ihm das nicht gelingen. Im Gegenteil, er brachte sie, Lili, nur unnötig gegen sich auf. Und vor allem erregte er ihre Neugier. Warum handelte er so unvernünftig, warum nur?
Ihr war kalt, obwohl der Kamin allmählich eine wohlige Wärme verbreitete. Das Frösteln kam jedoch von innen. Sie warf einen Blick auf die Kaminuhr und stellte fest, dass es halb sechs Uhr morgens war. Viel zu früh, um sich anzuziehen, das Haus zu verlassen und die Stadt zu erkunden. Lili zog die schweren samtenen Vorhänge auf, öffnete das Fenster und lehnte sich weit hinaus. Ein eisiger Wind wollte ihr die Luft zum Atmen nehmen, aber die frische Kälte, die ihr von draußen entgegenwehte, tat ihr gut. Auf der Uferpromenade, auf die sie hinausblickte, lag Neuschnee. Ihr Blick schweifte nach oben. Sie hatte eine dichte Wolkendecke erwartet, aber der Himmel war klar, und die Sterne funkelten tausendfach. Der Mond war fast voll und verlieh dem Schnee eine bläuliche Färbung. Im Gegensatz zu dem träge dahinfließenden River Ness, dessen Grau bis auf einen glitzernden Punkt an jener Stelle, wo das Mondlicht aufs Wasser traf, eher düster wirkte.
Die Häuser an der gegenüberliegenden Seite waren im viktorianischen Stil eng aneinander gebaut. Vereinzelt brannte in den unteren Etagen bereits ein Licht. Das sind die Dienstboten, mutmaßte Lili, und sie musste unweigerlich an ihre Mutter denken. Was würde die wohl gesagt haben, wenn sie ihre Tochter nun in der oberen Etage eines vornehmen Stadthauses hätte sehen können? Was, wenn sie wüsste, dass Lili entgegen all ihren Warnungen zum Trotz nun doch einen Mann aus den Highlands heiraten würde?
Wie oft hatte Lili als Kind davon geträumt, einmal die Highlands zu sehen. In ihrer Phantasie war es ein einsames Stück Erde gewesen, in dem Drachen hausten. Später in der Schule hatte sie Geschichte unterrichtet und versucht, den Mädchen jede Schlacht, die jene tapferen Männer aus den Highlands geschlagen hatten, nahezubringen …
Und wieder schweiften Lilis Gedanken zu ihrer Mutter ab. Schade, ich hätte so gern mit ihr über alles geredet. Nun muss ich allein das Richtige tun, dachte sie, und Tränen stiegen ihr in die Augen.
Entschieden wandte sie den Blick ab, schloss das Fenster und zog die Vorhänge vor. Weinen ist keine Lösung, redete sie sich gut zu. Ich muss kämpfen. Kämpfen für die Wahrheit, kämpfen für die Liebe und kämpfen für mein Glück und das von Isobel. Aber was, wenn Niall in ihr wirklich nur eine zweite Caitlin sah? Würde sie an seiner Seite dann überhaupt je wirklich glücklich werden können? Käme sie sich nicht wie ein beliebig ausgetauschtes Abbild seiner ersten Frau vor?
Lili begann, erneut in dem Zimmer herumzuwandern. Vom Fenster zur Tür, von der Tür zum Kamin und vom Kamin zum Schreibtisch. Dort blieb sie stehen. Er war wie die anderen Möbel aus Eibenholz gefertigt und wies wunderschöne Verzierungen aus Perlmutt auf. Die Oberfläche der Schreibplatte bestand aus wertvollem Leder. Ein schönes Stück, wie Lili fand. Wie oft war sie als Kind zu Mrs Denoons prachtvollem Damensekretär geschlichen, hatte sich nur für einen Augenblick auf den Schreibtischstuhl gesetzt und war mit der Hand über die Schreibplatte gefahren. Sofort hatte sie sich wie in einer anderen Welt gefühlt.
Vorsichtig streckte sie die Hand aus und berührte das kostbare dunkelgrüne Leder. Wie damals strich sie mit den Fingerspitzen darüber. Dabei fiel ihr Blick auf die leeren Fächer, doch dann hielt sie jäh inne.
Sie erinnerte sich plötzlich an das eine Mal, als die Neugier mit ihr durchgegangen war und sie es nicht bei einer leisen Berührung belassen hatte. Sie spürte heute noch, wie ihr das Blut in die Wangen geschossen war, als Mrs Denoon hinter ihr gefragt hatte: »Suchst du etwas,
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