Munroys & Makenzies Bd. 1 - Der Ruf der Highlands
Geheimfach zu werfen, steckte sie den Schlüssel in das Schloss und drehte ihn herum. Die Schublade öffnete sich nicht, aber als Lili vorsichtig am Schlüssel zog, bewegte sich etwas. Ganz langsam zog sie die Schublade auf und erstarrte, als ein Büchlein in einem ledernen Einband zum Vorschein kam.
Sie kämpfte noch eine Weile mit sich, ob sie es aus der Schublade nehmen sollte. Doch schon siegte ihre grenzenlose Neugier, und sie holte es mit steifen Fingern hervor. Eine Zeit lang hielt sie es nur in der Hand, immer noch unsicher, ob sie es wirklich aufschlagen sollte.
Nur einen Blick, einen flüchtigen Blick will ich riskieren, und dann verstecke ich es wieder, redete sich Lili ein, als sie das Büchlein wie einen kostbaren Schatz auf den Schreibtisch legte und den Deckel mit dem braunen Ledereinband anhob.
Sie musste trocken schlucken. Auf der ersten Seite stand in verschnörkelter Frauenschrift geschrieben: Meine persönlichen Aufzeichnungen. Lilis Hände zitterten, vor allem als ihr klar wurde, was sie in dem Tagebuch zu finden hoffte: die Antwort auf die Frage, ob das große Geheimnis um Caitlins Selbstmord mit Dusten zusammenhing. War er gar nicht der nette, hilfsbereite Verwandte, als der er sich ihr gegenüber ausgab? Hatte Niall vielleicht allen Grund, so misstrauisch und angespannt zu sein, seit sie in diesem Haus angekommen waren? Trieb ihn die Sorge um, dass Dusten ihm auch seine zweite Frau ausspannen könnte? War es kein Zufall, dass er sofort auf ihre Ähnlichkeit mit Caitlin angesprungen war? Sie musste Klarheit gewinnen, auch wenn sie sich für ihr Tun verabscheute. Mit bebenden Fingern hob sie den Deckel, als es an ihrer Zimmertür pochte.
Sie hatte das Gefühl, ihr Herzschlag setze aus. Was, wenn eines der Mädchen sie schnüffelnd am Schreibtisch von Lady Caitlin entdeckte? Was, wenn Niall es war?
Sie war wie erstarrt, wusste nicht, was sie tun sollte. Sie wusste nur eines: Die Tür war nicht abgeschlossen, und jeden Augenblick würde jemand hereinkommen und sie bei dieser Untat ertappen.
Es klopfte ein zweites Mal an der Tür. Lauter und fordernder.
»Gleich, ich kleide mich gerade an!«, wollte Lili rufen, doch aus ihrer Kehle kam nur ein heiseres Krächzen. Zumindest war sie aus ihrer Erstarrung erwacht. Sie wollte das Buch zurück in die Schublade legen, doch dazu bedurfte es einer sicheren Hand, und diese besaß sie gerade nicht. Sie bebte am ganzen Körper, aber sie schaffte es immerhin, die verdächtig offene Schublade rasch zuzuschieben. Dann riss sie das Büchlein vom Schreibtisch und schob es auf dem Weg zur Tür unter ihre Bettdecke. In diesem Augenblick öffnete sich die Tür und Niall trat mit einem Tablett in Händen in das Zimmer.
Lili blieb wie angewurzelt stehen und lächelte verkrampft, während sie mit einer Hand an der Bettdecke zog. Ein flüchtiger Blick verriet ihr, dass das Tagebuch tatsächlich unter der Decke verschwunden war, bevor sie ihrem Verlobten entgegentrat. »Das ist aber lieb von dir!«, hörte sie sich entzückt ausrufen.
Niall aber musterte sie über die Teekanne und den dampfenden Haggis auf dem Tablett hinweg prüfend.
»Hast du ein Gespenst gesehen?«
»Nein, nein, ich habe mich nur erschrocken, dass es klopfte, als ich mich gerade ankleiden wollte und ohne Kleidung dastand.«
Niall musterte zweifelnd das bodenlange weiße Nachthemd, das verräterisch unter dem Wollumhang hervorlugte.
»Ich wusste doch nicht, wer da vor der Tür steht. Da habe ich schnell das Nachthemd wieder angezogen und …«
»Schon gut, mein Liebling. Ich dachte, ich mache dir eine kleine Freude, wenn du nicht im Familienkreis frühstücken musst. Ich habe dir den Haggis in der Küche aufwärmen und eine Kanne Tee zubereiten lassen. Dazu etwas Black Pudding und Scones, damit du nicht vom Fleisch fällst.« Er lachte, und zwar auf jene Art, die Lilis Herz erwärmte. Dennoch konnte sie sich nicht rückhaltlos freuen, weil sie in Gedanken bei Caitlins Tagebuch unter der Bettdecke war. Besonders, als Niall ans Bett trat und das Tablett auf dem Nachttisch abstellte.
»Das ist ganz lieb von dir«, wiederholte sie hastig. »Dann lass mich nur rasch essen. Danach kannst du mir die Stadt zeigen.«
»Soll ich dir denn keine Gesellschaft leisten?«, fragte er verwundert.
»Nein, ich … ich hatte so schlimme Träume und muss erst einmal richtig wach werden.«
»Wie du meinst. Komm nach unten, sobald du angezogen bist«, murmelte Niall, doch er machte keine Anstalten, das
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