Munzinger Pascha
waren die Verfolger so zahlreich, daß an ein Halten nicht zu denken war.
Herr Munzinger Pascha, trotz seiner schweren Wunden, blieb standhaft und sagte, da er doch verloren sei, solle man ihn hierlassen und jedermann sich durch Flucht retten. Seine Frau, ebenso gefaßt, schickte ihre Diener fort, die sie bisher getragen hatten. Herrn Munzinger Pascha hat man tausend Schritte vom Schlachtfeld weggetragen, seine Gattin vielleicht zweihundert Schritte weiter. Beide blieben, die anstürmenden Feinde hinter sich, hilflos dem traurigsten aller Schicksale überlassen.
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Niemand hat die geschundenen Leichen von Werner Munzinger und Oulette-Mariam je gefunden. Adolf Haggenmacher gelang vorerst die Flucht. Vier Tage lang trank er seinen eigenen Urin und das Blut verstorbener Gefährten, bevor er an Entkräftung starb. Haggenmachers Frau, welche die Expedition glücklicherweise nicht mitgemacht hatte, lebte bis zu ihrem Tod in Kairo; ihren einzigen überlebenden Sohn holten die Großeltern nach Brugg im Kanton Aargau. Der siebenjährige Mohrenbub gewöhnte sich aber nie an das europäische Leben und wurde schwermütig. Nach elf qualvollen Jahren gaben die Großeltern endlich nach und ließen den Jüngling nach Afrika heimkehren.
Werners Bruder Walther wurde nach dem frühen Tod Maries nie mehr froh; er vergrub sich in sein Lebenswerk, vollendete das Schweizerische Obligationenrecht und starb drei Jahre nach Marie an einer ziemlich harmlosen Erkältung.
König Ismail verstrickte sich tief in Schulden. Seine europäischen Gläubiger zwangen ihn 1879, die Macht seinem Sohn Tawfiq Pascha zu überlassen. Ismail ging ins Exil nach Neapel und dann nach Istanbul, wo er vierundsechzigjährig starb. In Abessinien hielt sich Kaiser Johannes zehn Jahre länger, wurde aber 1889 durch Menelik II. vom Thron gestoßen.
Munzingers kleines Königreich übernahmen nach |208| einigen Querelen die Italiener, und die machten daraus ihre Kolonie Eritrea. Dem Ende der Kolonialzeit folgten dreißig Jahre Bürgerkrieg zwischen den politischen Nachfahren von Munzinger und Johannes. Seit 1991 herrscht ein zerbrechlicher Friede. Das Land ist übersät mit Ruinen, Tretminen und ausgebrannten Panzern; überall fahren weiße Männer in vierradgetriebenen Toyota Landcruisers umher und verteilen US-amerikanisches Weizenmehl. Aber Werner Munzingers Damm vom Festland nach Massaua steht noch, und das Trinkwasser auf der Insel ist ausgezeichnet.
Polja und ich? Wir sind bis zur Morgendämmerung durchgefahren in jener Nacht. In Montpellier stiegen wir ab, staksten mit steifgefrorenen Beinen in die ›Auberge du Midi‹ und hinauf ins Dachzimmer, wo wir zwei Tage und zwei Nächte blieben. Am Tag unserer Weiterfahrt hatten wir unseren ersten Streit – seither überläßt mir Polja hin und wieder den Lenker. Schnell hatten wir die Pyrenäen hinter uns. In Pamplona verschenkten wir unsere Regenkombis an zwei heimwärts fahrende Friesen. Und seit bald zwei Monaten sind wir in Santiago de Compostela, am westlichsten Zipfel Europas; lang wird es wohl nicht mehr dauern, bis man uns droben im kühlen Norden die Kreditkarten sperrt. Polja hat hier eine Gruppe anarchistischer Studenten kennengelernt und diskutiert mit ihnen ganze verregnete Nachmittage lang über Chancen und Gefahren der Europäischen Union. Dann sitze ich im Hotelzimmer an meinem Tischchen und schreibe an dieser Geschichte. An sonnigen Tagen aber fahren wir hinaus ans Meer und baden im eiskalten Atlantik, und abends gehen wir tanzen.
|211| NACHWORT
Mit der Niederschrift dieses Romans habe ich Ende Juni 1995 begonnen. Ich erinnere mich gut daran, weil ich am Morgen des ersten Arbeitstages ins Kaufhaus lief und mit einem Körbchen unreifer Kirschen sowie zwei leeren Bananenschachteln zurückkam. Die Kirschen waren ungenießbar, aber die Schachteln stellte ich links und rechts von meinem Schreibtisch auf. In die linke Schachtel legte ich alle Dokumente über das Leben Werner Munzingers, die ich in einjähriger Recherche gesammelt hatte. Die rechte Schachtel blieb vorläufig leer.
Dann schaltete ich meine Schreibmaschine ein und begann mit dem ersten Kapitel. Ich entnahm der linken Schachtel die Dokumente, die ich gerade benötigte, und errichtete auf dem Schreibtisch Papierstöße nach einem geheimen, nur mir allein begreiflichen System. Die verwerteten Blätter und Zettel wanderten in die rechte Schachtel. Als ich das erste Kapitel abgeschlossen hatte, war mein Schreibtisch wieder nahezu
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