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Murray, Paul

Murray, Paul

Titel: Murray, Paul Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: An Evening of Long Goodbyes
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saß
dann immer versunken in seinem riesigen Sessel und grübelte über etwas nach.
Wie verzaubert der Raum immer auf mich gewirkt hatte, mit seinen Schwindel
erregenden Wänden aus geheimnisvollen Büchern und Journalen, dem düsteren Teppich,
den Mutter immer wegwerfen wollte, aber nicht durfte, dem servilen, auf seinem
Sockel hoffnungsvoll wartenden Gipskopf. Ein Raum wie eine Alchimistenhöhle,
die Teil des Hauses war und auch wieder nicht, wo Vater mit uns zusammen lebte
und auch wieder nicht...
    »Was soll
das hier bedeuten, Papa, Knochen?«
    »Backenknochen,
Charles. Du musst wissen, dass manche Menschen eigentlich gar keine haben, und
diese Farben hier...«
    »Und das,
was ist das?«
    »Also, das
ist eine chemische Formel, so nennt man das. Und das hier ist ein
Stearatradikal. Halt, Charles, nicht anfassen...«
    »Ooh,
'tschuldigung.«
    »Macht
nichts. Schau mal aus dem Fenster, siehst du Mutter? Vielleicht kannst du ihr
ein bisschen im Garten helfen?« Und damit schob er mich sanft, aber bestimmt
zur Tür hinaus...
    Seit
seinem Tod war nichts in dem Raum verändert worden. Alles war so, wie er es
hatte liegen lassen; als ob er nur mal eben aus dem Zimmer gegangen wäre und
jeden Augenblick zurückkommen könnte: die Glasfläschchen mit Farbstoffen und
Essenzen, die Farbskalen und Querschnittzeichnungen, der Schreibtisch, der
überquoll von Magazinausschnitten mit Fotos ungestümer Models, die Frisuren und
Kleider trugen, die schon aus der Mode waren. Sie glichen Geistern, die man
allein für diesen Augenblick belebt hatte, aus der Dunkelheit auflodernden
Flammen, die dann wieder in ihr Reich, wo es immer 1996 war,
zurückkehrten. Die einzige Veränderung war Vaters Porträt, das Mutter gegenüber
dem Fenster aufgehängt hatte. So konnte er sich auch weiter an dem Anwesen und
dem Park erfreuen, an seinem Empire, das er aus dem Nichts aufgebaut hatte.
Nun ja, fast aus dem Nichts: Unsere Familie führt ihre Ursprünge auf die ersten
normannischen Eroberer zurück, obwohl einige bedauerliche Tändeleien mit dem
ansässigen Kleinbauernstand die Blutlinie über die Jahrhunderte etwas
verwässert hat. Diesem Umstand ist möglicherweise die gelegentliche und auch
bei meiner Schwester offenbare Laxheit im Urteil geschuldet. Ich stand im
Mondlicht, wobei ich mich mit den Armen am Schreibtisch hinter mir abstützte,
und studierte die Hakennase, die dünn lächelnden Lippen, die frischen roten
Wangen. Obwohl das Bild nach seinem Tod gemalt worden war, nach Fotografien,
traf es das Wesen meines Vaters sehr gut. Er war ein Mensch gewesen, der dem
Leben auf eine ihn beflügelnde, wenn auch unerklärbare Weise zugetan war.
    Ich hatte
schon fast vergessen, weshalb ich überhaupt hier war, als mir zufällig etwas
Ungewohntes auffiel: zwei rote Vertiefungen in einem samtenen Quadrat. In
Vaters Münzsammlung fehlten mysteriöserweise zwei Stücke. Frank! So spielte er
also sein Spiel - langsam angehen lassen, dann fällt keinem was auf, bis das
ganze Haus ausgeräumt ist! Ich stellte mir die Szene vor: ein schäbiger
Vorortpub, unter der Decke der plärrende Satellitenfernseher, Plastiktische im
Marmorlook, er und sein Hehler, flache Filzhüte auf den Köpfen, wie sie sich
lachend mit klirrenden Gläsern zuprosteten und das schäumende Bier tranken. Ich
hörte, wie unten ein Küchenschrank geöffnet wurde. Ha! Wütend krempelte ich
meine Pyjamaärmel hoch. Auf frischer Diebestat erwischt, das Maul werde ich
ihm stopfen, Golem hin oder her!
    Leise
tappte ich die Treppe hinunter. Aus dem Salon holte ich den Schürhaken, dann
sah ich auf den Bodendielen der Halle einen schwach glänzenden Lichtschein. Vor
der ausladenden Treppe wirbelte ich herum und blickte von einer verschlossenen
Tür zur anderen. Dann ein Geräusch! Ich stürzte mit erhobenem Schürhaken durch
die Tür der Spülküche - und konnte mich gerade noch rechtzeitig fangen. Der
Hieb streifte Mrs P zwar nur leicht, aber er reichte unglücklicherweise aus, um
das Silbertablett aus ihren Händen schießen und auf den Boden krachen zu
lassen. »Master Charles«, kreischte sie. »Sie erschrecken mich zu Tode.«
    »Tut mir
Leid, Mrs P, hätte nicht gedacht, dass Sie so spät noch auf sind...«
    »Doch,
ja«, sagte sie stockend. »Ich ... ich mache das Frühstück.«
    Ich hob
einen zartes Stück Fasan vom Boden auf. Ein paar verlockende Stückchen
Röstkartoffeln klebten daran. Frühstück um drei Uhr morgens? Zudem kein
gewöhnliches Frühstück. Zum Fasan gab es -

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