Murray, Paul
alte
Thompson kam dann nach draußen gehumpelt, fuchtelte mit seinem Stock und
schrie: »Hinterher, Olivier, los, schnapp sie dir!« Und wir kreischten und
liefen weg, während Olivier, die spindeldürre schwarze Spinne in ihrer engen
Kunstfaseruniform, die Verfolgung aufnahm und wir immer noch gerade
rechtzeitig durch das Loch schlüpften und der alte Thompson auf der anderen
Seite weiterbrüllte. »Verdammte Brut, ich ruf euren Vater an, ihr
verdammten...«
Ich weiß
nicht, ob er Vater jemals angerufen hat, und ich weiß auch nicht, ob ihm das
überhaupt gut bekommen wäre. Es konnte sehr schwierig sein, zu Vater
durchzudringen. Er steckte voller unerfüllter romantischer Ideen und nie
ausgesprochener eigensinniger Hirngespinste. Er verbrachte lange Stunden im
Büro oder in seinem Arbeitszimmer, und am Ende des Tages brachte er nur seine
Hülle mit nach Hause. Den ganzen Abend verharrte er in überdrüssigem,
wohlwollendem Schweigen, das er nur für abstrakte Vorträge oder lustlose
Fragen über die Schule unterbrach. Aber manchmal wanderte er zwischen den
Bäumen hindurch den Hang hinauf und schaute dann hinunter auf die flatternden
Dunstschwaden des Meeres. Und manchmal nahm er Bel und mich auf diese
Spaziergänge mit. Unruhig zappelten wir herum, während er hinaus in die
Dunkelheit starrte. Und wenn wir uns schon fragten, was das Ganze sollte und
wie lange wir hier noch sinnlos herumstehen müssten, während unten wertvolle
Fernsehzeit verrann, drehte er sich zu uns um und fing ohne einleitende Worte
an, aus dem Gedächtnis ein Gedicht vorzutragen, schaurige Verse über einsame
Liebende und launische Elfen, über hinterhältige Gespenster und raunende
Meere. Und während wir bleich wurden vor Unverständnis oder vor Erregung
zitterten angesichts der betörenden, mehrdeutig sprühenden Magie der Zeilen,
sagte er leise lachend: »Yeats, Kinder. Yeats hätte das gefallen, so ein Abend,
hier oben mit uns.« Und bevor wir noch darüber Auskunft geben konnten, dass uns
die Anwesenheit oder sonst was von Yeats egal war, hatte er sich schon
umgedreht und war zurück Richtung Haus marschiert.
Vater war
ein Meisterkosmetiker gewesen. Was ein Meister der Renaissance auf einer leeren
Leinwand erblickt haben mochte, erahnte er in der Haut des menschlichen
Gesichts: die Möglichkeit übernatürlicher Schönheit. Malte ein Meister der Renaissance
jedoch, um Zeugnis zu geben von der Größe Gottes, so sah mein Vater, der
Agnostiker, der zeit seines Lebens mit einem Gott im Streit lag, an den er
nicht glaubte, seine Arbeit als Widerstand. Als wollte er behaupten: Wo du
versagt hast, da habe ich Erfolg; ich kann den Menschen über deinen
erbärmlichen Schöpfungsakt hinausheben. Er hatte mit allen Größen gearbeitet
- mit Lancome, Yves St. Laurent, Givenchy, Chanel. Er hatte Salben, Balsame und
Lotionen erfunden, um die Verheerungen durch die Sonne aufzuhalten, den
schwarzen Glanz von Mascara vor Regen und Tränen zu schützen, das Blutrot des
Kussmundes auch bei tausend blutroten Küssen zu bewahren. Lindern, verjüngen,
verschönern, wiederherstellen, kurz, Kosmetika als Beweis der Liebe zum
Menschen, als Mittel, die Jahre zurückzudrehen und die Geschichte des Lebens
ungeschrieben zu machen. Eine Geschichte, die sich immer in Falten, Narben und
trockener Haut niederschreibt, egal, was man sich alles erzählt über den Glanz
der Weisheit und des Lebens reiche Fülle.
Sein Tod
lag jetzt zwei Jahre zurück. Er kam nach langer, verheerender Krankheit und
war mit großen Leiden verbunden. In seinen letzten Tagen verfiel er zusehends.
Der Verstand ließ ihn im Stich, und er missbrauchte seine Kunst. Er versuchte,
die durch die Krankheit hervorgerufene Entweihung zu verbergen und ihr so
glaubte er - entgegenzuwirken. »Es führt einfach kein Weg dran vorbei«, hatte
er uns immer wieder gern erzählt, als er noch gesund war. »Dein Aussehen
bestimmt, wer du bist. Du kannst deine Seele oder dein Herz in die Waagschale
werfen, aber überall auf der Welt wird man dich nach deiner großen Nase oder
schlaffen Haut beurteilen. Sechs Milliarden Menschen können sich irren, aber
keiner wird's zugeben.« Also schmierte er sich mit zitterigen Fingern Lage um
Lage Make-up ins Gesicht. Wie ein trauriger, syphilitischer Pierrot lag er im
Halbdunkel, die Wangen ausgezehrt, hohl, befleckt mit Rouge. Eine Zeit lang
hätte nicht viel gefehlt, und das Haus hätte sich in eine Art Sterbeklinik namens Cage Aux Follies verwandelt. Alle krakeelten
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