Murray, Paul
nie etwas Böses zustoßen könnte, so lange wir nur hier
blieben. Die Welt draußen könnte in Flammen aufgehen, und wir würden einfach im
Schatten der hohen Steinmauern weiterspielen. Was uns betraf, so war Amaurot
die Welt - sie gehörte uns, wie die Wellen zum Meer und bestimmte Blautöne zum
Himmel gehörten.
Das Haus
stand am Fuß von steilen Hügeln auf einer Landzunge, die an zwei Seiten vom
Meer umspült war. Zu jeder Stunde des Tages konnte man die See flüstern oder
donnern hören, konnte man sehen, wie sie sich von Jadegrün in Amethystviolett,
von Grau in tiefstes Schwarz verfärbte. Ich liebte sie als Gefährtin für meine
Gedanken, als Ohr, der ich meine Wünsche offenbarte. Über die Rasenflächen
führte in weitem Bogen eine stolze, lange Allee zurück zur Straße. Uralte
Bäume, junge Bäume, wilde Blumen drängten sich dicht an dicht. Hinter dem Haus
befanden sich der in den letzten Jahren ziemlich verwahrloste Gemüsegarten,
Apfelbäume, Kirschbäume und ein Bach, der die Frösche hinunter ins Meer spülte.
Hier hatten Bel und ich den Großteil unserer Kindheit verbracht, in hohem Gras,
auf einem Teppich aus Kiefernnadeln.
Bel war
eine aufsässige Spielgefährtin gewesen. Sie machte lange Phasen durch, in denen
sie mit niemandem sprach. Stattdessen las sie, tagelang, ohne Unterbrechung.
Sie saß auf der Fensterbank, und ihre nackten Beine baumelten hin und her. Aber
sie hatte Fantasie. An den Tagen, wenn sie von ihrem Sims heruntersprang und
zu mir in mein Fort aus Holzlatten kam, da sprudelten die fabelhaften
Gedanken, die die Bücher in ihr entfacht hatten, als verschachtelte
Abenteuergeschichten aus ihr heraus, dass ich Mühe hatte, ihr zu folgen.
Sie las
gern Geschichten über Russland, und Amaurot musste oft als Double für den
Winterpalast herhalten. Manchmal waren wir Waisenkinder des Zaren, die auf der
Flucht vor den Klauen der bösen Revolution in Phantomdreispännern unsichtbare
Wüsten durchquerten. Manchmal war sie die schüchterne, bezaubernde Prinzessin
und ich der forsche Freier, der alle Mühe hat, ihr Herz zu gewinnen. Ich hieß
dann Karl und sie Tatjana, wie die Heldin aus Puschkins Eugen
Onegin, ein Buch, das sie liebte, seit sie acht Jahre alt war.
Selbst als die Spielzeuge und die Spiele für immer vergessen waren, hielt sie
an dem Namen fest: Für ihre Schulfreunde hieß sie noch Tatjana, als sie schon
ein Teenager war. Christabel war Vaters Idee gewesen, nach einem Gedicht von
Coleridge - eine düstere und ziemlich deprimierende Geschichte über Nymphen
und Vampire, die an einem Punkt abbricht, als völlige Verwirrung und
allgemeiner Verdruss herrschen. Bel konnte den Namen nicht ausstehen. »Es ist
ja nicht nur, dass kein Mensch den Namen buchstabieren kann«, wetterte sie in
regelmäßigen Abständen. »Der Kerl hat's nicht mal bis zum Happyend geschafft.
Ich meine, hätte man mir keinen Namen geben können nach einem Gedicht, dass
wenigstens fertig ist? Ist das etwa zu viel
verlangt?« Schließlich einigte man sich auf einen Kompromiss - Bel. Vater war
der Einzige, der sie noch bei ihrem vollen Namen nannte.
Hin und
wieder schnappte ich auf, wie Mutter zu Vater sagte, Bel sei vielleicht ein
Genie. »Wie sie liest!«, sagte sie. »Die Bibliothek ist praktisch leer. Ein
Buch nach dem anderen schmuggelt sie raus.«
»Ich hab
schon überlegt, ob wir nicht einen Billardtisch reinstellen sollen«, sagte
Vater.
»Und was
für eine Fantasie sie hat!«, fuhr Mutter fort. »Was für Sachen aus ihr
raussprudeln, also wirklich...«
»Hmm ...
meinst du nicht, dass sie es mit ihrer Fantasie ein klein wenig übertreibt? Sie
verbringt ziemlich viel Zeit in ihrer Traumwelt.«
»Das ist
ein Zeichen von Intelligenz, Ralph. Glaub mir, unser Mädchen wird's noch weit
bringen.«
»Hey, Euer
Hoheit«, sagte ich zu Bel, während ich Vater und Mutter von der Fensterbank aus
belauschte. »Die Vesallen haben wir abgeschüttelt, jetzt hab ich Hunger. Wie
wär's mit ein paar Äpfeln dort drunten in den Wäldern...«
»Man sagt
nicht >Hey< zu einer Prinzessin, Charles.« Dann hüpfte sie herunter.
»Außerdem heißt es Vasallen und nicht Vesallen.« Durch ein Loch in der Hecke quetschten wir uns dann in den Garten vom
alten Thompson und warfen herumliegende Zweige nach oben in den Baum, bis um
uns herum die Äpfel dumpf auf den Boden aufschlugen und unweigerlich Olivier,
Thompsons unheimlicher deutscher Diener, auf der Veranda auftauchte. »Mister
Ssompsen, die klauen wieder Äpfel.«
Der
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