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Murray, Paul

Murray, Paul

Titel: Murray, Paul Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Skippy stirbt (Teil 3)
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los. Bei diesem Angriff bekam William Molloy,
Justers Urgroßvater, einen Schuss in die Hand und musste zu seinen Linien
zurückkriechen. Er gehörte zu den glücklichen Überlebenden. Die Hälfte der
Dubliner Kameraden fiel in jener Nacht.
    Nach dieser Episode änderten die Alliierten ihre Pläne.
Die Division gab auf, die übrig gebliebenen Kameraden wurden aufgeteilt und
nach Thessaloniki überstellt. Als ihr Schiff ablegte und sie ihre Freunde an
der Steilküste und auf den Hügeln zurücklassen mussten, schworen sich die
Männer, ihr Opfer - das, was dort geschehen war - dürfe nie vergessen werden.
Doch es wurde vergessen, wie wir wissen. Oder vielmehr, die Erinnerung daran
wurde mit Vorbedacht ausgelöscht. Ein großes Unglück, nach all den furchtbaren
Strapazen und sinnlosen Verlusten an Menschenleben. Aber so war es. Die Jahre
vergingen, und die Dubliner Kameraden wurden ein weiteres Mal zu Opfern,
diesmal zu Opfern der Geschichte.«
    Howard steckt sein Notizbuch in die Tasche und begegnet
dem Blick der Jungen, die in Dreier- und Vierergrüppchen auf dem glänzend
grünen Rasen verteilt stehen wie Statuen in Regenkluft.
    »Wir, die wir in Friedenszeiten leben, können uns die
Gemütsverfassung der Menschen, die den Krieg erlebt haben, nur schwer
vorstellen. So viele Männer waren umgekommen, jeder sechste Armeeangehörige,
und fast jeder hatte einen Verlust zu beklagen. Väter, Mütter, Brüder,
Schwestern, Ehefrauen. Freunde. Es herrschte schier überwältigende Trauer, und
diese Trauer nahm mitunter sehr extreme Formen an. In Frankreich beispielsweise
war kaum ein Soldatengrab mehr sicher. Arme Familien verwandten ihren letzten
Penny darauf, die Leichname ihrer Söhne aufzuspüren und von der Front nach
Hause zu überführen. Großbritannien wurde von einer ungeheuren spiritistischen
Welle erfasst. Väter und Mütter hielten Seancen ab, um mit ihren toten Söhnen
sprechen zu können. Höchst respektable, normalerweise durch und durch
vernünftige Menschen gerieten in diesen Sog. Es gab sogar einen angesehenen
Wissenschaftler, einen Pionier auf dem Gebiet der elektromagnetischen Wellen,
der glaubte, er könne mit ihrer Hilfe eine Brücke zwischen unserer Welt und
dem Jenseits bauen und sich so in das Reich der Toten >einblenden<.«
    Er kommt kurz aus dem Konzept, weil Ruprecht Van Doren ihn
aus hervorquellenden Augen anglotzt, als wäre er kurz vorm Ersticken. »Vor
allem jedoch«, nimmt er stockend den Faden wieder auf, »bewältigten die
Menschen ihre Trauer mithilfe von Erinnerung. Sie
steckten sich Mohnblumen zu Ehren ihrer Lieben an, sie stellten Statuen und
Sarkophage auf. Und in ganz Europa, in Dörfern, kleinen und großen Städten,
legten sie Gedenkparks wie diesen an. Der hier unterscheidet sich allerdings
von allen anderen. Weiß irgendjemand von euch, inwiefern?« Er lässt den Blick
reihum über die fahlen Gesichter wandern. »Dieser Park ist niemals offiziell
eröffnet worden. Mit seiner Anlage wurde erst in den Dreißiger Jahren begonnen,
und die Fertigstellung dauerte bis zur Jahrtausendwende. In den dazwischen
liegenden Jahrzehnten hat man ihn verwildern lassen. Hier ließen Leute ihre
Pferde grasen, Dealer verkauften hier Drogen. Es war der Gedenkpark, an den
sich keiner mehr erinnerte. Und damit repräsentierte er die Einstellung der
meisten Iren zum Krieg: etwas, das stillschweigend begraben werden sollte.
    Tatsache ist, dass die Iren, die im Großen Krieg gekämpft
hatten, nach dem Osteraufstand und dem Unabhängigkeitskrieg nicht zu dem neuen
Bild passten, das das Land von sich hatte. Wenn die Briten unsere Erzfeinde
waren, wieso hatten dann zweihunderttausend Iren Seite an Seite mit ihnen
gekämpft? Wenn unsere Geschichte von dem verzweifelten Bemühen geprägt war, die
britischen Unterdrücker abzuschütteln, wieso waren wir ihnen dann beigesprungen,
hatten in ihrem Namen Schlachten geschlagen und unser Leben gegeben? Die
Existenz jener Soldaten schien gegen das neue Gebilde namens Irland zu
sprechen. Darum wurden sie zunächst als Verräter hingestellt. Und dann
systematisch vergessen.«
    Die Jungen hören zu, mit bleichen Gesichtern vor dem satt
schimmernden Grasgrün des verlassenen Parks.
    »Es ist ein gutes Beispiel dafür, wie die Geschichte
funktioniert«, sagt Howard. »Wir neigen dazu, sie als etwas Solides, Unveränderliches
anzusehen, das quasi aus dem Nichts auftaucht, in Stein gemeißelt wie die Zehn
Gebote. Aber die Geschichte ist letztlich auch nur eine Geschichte,

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