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Murray, Paul

Murray, Paul

Titel: Murray, Paul Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Skippy stirbt (Teil 3)
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und
Geschichten unterscheiden sich von der Wahrheit. Die Wahrheit ist wirr und
chaotisch und ein heilloses Durcheinander. Oft ergibt sie schlicht keinen Sinn.
In Geschichten ergeben die Dinge einen Sinn, aber nur weil darin alles
weggelassen wird, was nicht passt. Und das ist oft eine ganze Menge.
    Für die Männer der >D<-Company wie auch für alle
anderen an der Front war diese Erkenntnis ein harter Brocken. Man hatte ihnen
alle möglichen Geschichten erzählt, um sie zum Eintritt in die Armee zu
bewegen, Geschichten über Pflichterfüllung und Moral und die Verteidigung der
Freiheit. Vor allem aber bekamen sie zu hören, was für ein Abenteuer ihnen
bevorstünde. Vor Ort stellten sie dann fest, dass die Geschichten allesamt
erstunken und erlogen waren. Man hatte sie kaltschnäuzig dem bis dato brutalsten
und barbarischsten Chaos der Weltgeschichte ausgeliefert. Und die Geschichte,
die über dieses Chaos erzählt wurde, war so verlogen wie die Geschichten, die
zu seiner Entstehung beigetragen hatten.
    Als sie 1914 unter den Jubelrufen der Menge zum Hafen marschierten,
müssen die Dubliner Kameraden sich in der Hoffnung gewiegt haben, zumindest
nicht vergessen zu werden. Andererseits war es für die Überlebenden, die so
schmählich irregeführt worden waren, im Nachhinein vielleicht nicht allzu
überraschend, dass die Geschichte eine andere Wende nahm. Und vielleicht waren
sie klug genug, sich davon nicht unterkriegen zu lassen. Sie hatten sich gemeinsam
freiwillig gemeldet, und das Freundschaftsband zwischen ihnen hatte Bestand,
als sie die Front erreichten und die großen Worte sich als Schall und Rauch
entpuppten. Dass sie Freunde blieben und einander nicht aus den Augen ließen,
war nach Ansicht der meisten der Grund, warum sie nicht vollkommen
durchdrehten. Und letztlich war es das Einzige, das einzig Wahre, wofür es sich
wirklich zu kämpfen lohnte.«
    Zum Abschluss lächelt er den Jungen zu; sie starren stumm
zurück. Mit ihren grauen Schuluniformen gleichen sie geradezu beängstigend
einem körperlosen Zug Soldaten, die, aus den Winterwolken kommend, Gestalt
angenommen haben und den kahlen Park nach einem Wesen absuchen, das sie nicht
vergessen hat.
    Abends ruhen zum ersten Mal seit Monaten die Bauarbeiten.
Die vollkommene Stille wirkt fast schon gespenstisch; beim Aufschlagen seiner
Bücher verspürt Howard ein leichtes Schwindelgefühl.
    Auf dem Rückweg zum Bahnhof waren die Jungen ganz in sich
gekehrt gewesen. Zunächst plagte Howard die Furcht, sie deprimiert zu haben,
doch als der Zug sie aus der Stadt heraus und zurück an die Küste brachte,
tauchten sie aus ihrer Versunkenheit mit Fragen auf:
»Also, wie ist
das, die Schüler aus Seabrook damals, haben die alle im Krieg mitgekämpft?«
    »Na ja, so wie bei euch auch haben ihre Eltern viel Geld
für ihre Ausbildung bezahlt. Deshalb nehme ich an, dass die meisten nicht in
die Armee eingetreten sind, bevor sie nicht ihren Abschluss in der Tasche
hatten. Aber dann haben sich mit Sicherheit viele freiwillig gemeldet.«
    »Und sind sie erschossen worden?«
    »Der eine oder andere, ja, ich denke schon.«
    »Wow, ob ihre Geister wohl in der Schule herumspuken?«
    »Oh Mann, ihre Geister spuken auf dem Schlachtfeld herum,
du Spast.«
    »Oh Verzeihung, wie konnte ich nur vergessen, den weltbekannten
Geisterexperten zu befragen, der alles darüber weiß, wo Geister Jagd auf
Menschen machen.«
    »Wenn es euch interessiert«, geht Howard sacht dazwischen,
»kann ich sicherlich herausfinden, wer von ihnen sich gemeldet hat und was mit
ihnen geschehen ist.«
»Wie denn?«
    »Vorschlag: Ich mache mich kundig, und wir reden in der
nächsten Stunde weiter darüber.«
    Er hatte seine Schäfchen bis zum Doppelportal von Seabrook
geleitet und dann auf dem Absatz kehrtgemacht, um sich seinem Schicksal nicht
sofort stellen zu müssen; auf dem Weg zu seinem Wagen glaubte er einen
verkrümmten Finger zu sehen, der im ersten Stock eine Lamelle der
Fensterjalousie nach unten zog ... Nun jedoch, vom Interesse der Jungen in
gehobene Stimmung versetzt, fragt er sich, ob die Lage tatsächlich so
aussichtslos ist. Ließe sich nicht vielleicht, wenn er sie richtig hindrehte,
auch der Automator mit der Geschichte von William Molloy ködern? Eine Episode,
die den Geist von Seabrook beschwört und ihm Weltgeltung verschafft, einer der
Großen unter den Ehemaligen, von der Geschichte vergessen und von seinen
Nachfahren an der Schule hundert Jahre später wiederentdeckt - wäre das

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