Murray, Paul
-Sammelalbum, und wenn Dad zu Besuch kommt, stellt sie sich oft
schlafend, dreht das Gesicht zum Fenster, während er dasitzt und in einem
Fitnessmagazin für Männer blättert und dabei unbewusst die Muskeln spielen
lässt.
Weißt du, Lori - Dr. Pollard lässt seinen Stuhl kreisen -,
die Gefühle, die du beschreibst, sind alles andere als ungewöhnlich. Für
jemanden, der sich in einem verletzlichen Zustand befindet, können die
einfachsten, alltäglichsten Dinge in der Tat eine Überforderung darstellen.
Und nichts zu essen ist eine verbreitete Reaktion auf diese Form der
Überforderung. Wir können uns die Nahrung als das physische Bindeglied zwischen
uns und der Welt vorstellen. Indem wir sie verweigern, versuchen wir uns und unseren
Körper von dem zu befreien, was wir als zerstörerisches Eindringen dieser Welt
empfinden. Paradoxerweise kann dieser Akt der Selbstbehauptung jedoch überaus
schädlich sein.
Er schlägt die Beine übereinander und lässt sie seine abstoßenden,
haarigen weißen Schienbeine sehen. Sie hätte lieber Mr. Scott, den
Französischlehrer, als psychologischen Berater. Sie stellt sich vor, wie er bei
ihr am Bett sitzt und ihr französische Gedichte vorliest, ihr die Vokabeln und
die Symbolik erklärt - elle est debout
sur mes paupiéres, et ses cheveux sont dans les miens ...
Der Reifungsprozess führt uns, psychologisch gesprochen,
zur Erkenntnis und Akzeptanz der Tatsache, dass wir schlicht nicht unabhängig
von der Welt existieren können und darum lernen müssen, in ihr zu leben, mit
allen Kompromissen, die das beinhalten mag.
... und er würde ihr keine Fragen stellen, und genau darum
würde sie ihm erzählen, wie man sich so fühlt als eine Person, die nur
Verderben bringt, die das Schlimmste getan hat, was sie sich nur vorstellen
kann, deren Leben zu einer Kette von Lügen geworden ist, zwischen denen sie
gefangen sitzt wie ein Geist, und dass sie einfach bloß weg sein will, weg weg
weg -
Schsch, würde er sagen und sie in den Arm nehmen. Und sie
einfach nur festhalten. Und er hätte keine eklig haarigen Schienbeine.
Dr. Pollard will ihr bloß helfen, das weiß sie, aber es
wäre so viel leichter, wenn er sie in Ruhe ließe! Sie wünschte, sie könnte ihm
erklären, dass sie sich nicht mies
fühlt! Weil, sie weiß, was sie tut, klingt schräg, ja, aber je
dünner sie wird, desto besser fühlt sie sich - als wäre sie auf einem Berg, der
aus der Erde wächst und sie immer höher hinauf zu den Wolken trägt, weg von all
den Händen, die versuchen, sie zu packen. Es macht ihr nichts aus, wenn die
Mädchen sie besuchen kommen und ihr Entsetzen oder ihre Genugtuung darüber, wie
sie jetzt aussieht, nicht verbergen können, und als Janine zur großen
Beichtszene anrückt und Lori reinen Wein über sich und Carl einschenkt, ist
Lori nicht mal sauer. Sie beobachtet Janine, die lauthals flennt und sich die
Fäuste in die Augen bohrt und schluchzt, Wir konnten
nichts dagegen machen, Lori, wir sind verliebt, wie man
ein Insekt beobachtet oder irgendwas Widerliches, das auf den Rücken gekippt
ist oder in einem Gully feststeckt. Sie wird nicht sauer, sie erzählt Janine
nicht, dass Carl ihr immer noch SMS schickt, obwohl sie sich vorstellen kann,
es zu sagen und sich daran zu weiden, wie weh sie Janine damit tut. Weil, das
mit Carl kommt ihr ewig lang her vor, sie begreift jetzt nicht mehr, wieso sie
je gewollt hat, dass er oder sonst wer sie anfasst. Und mit Janine ist es das
Gleiche, lauter Sachen, die sie hinter sich gelassen hat. Jeden Tag ist sie ein
Stück freier, freier von sich selbst oder von
dem, wofür die Leute sie gehalten haben. Und bald wird sie ganz frei sein,
frei wie die Luft.
In Lalas Bauch sind die Pillen, die sie Carl mit ihren
Küssen abgekauft hat. Jetzt werden es Küsse für sie selbst sein, Küsse, die
sagen, ich liebe dich, Lori. Wer würde sie sonst noch küssen, wo ihr Atem doch
jeden Augenblick nach Tod schmeckt? Der wahre Geschmack unter allen Dingen, und
jetzt schmeckt sie ihn in jedem Augenblick. Der Plan ist fertig - der neue
Plan, ihr Plan -,
die singenden Mädchen sind schon auf dem Weg. Sie werden mit dem Wind kommen
und Lori, Lori singen,
und sie wird davontanzen, anmutig wie eine Ballerina - hey!, sind sie das etwa
schon? Ruft da nicht jemand ihren Namen? Hier unter ihrem Fenster? Sie zieht
den Vorhang beiseite, doch was da unten steht, ist kein Mädchen. Und definitiv
nicht dünn.
Howard findet es erstaunlich, wie schnell er ohne die
scheppernde
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