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Murray, Paul

Murray, Paul

Titel: Murray, Paul Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Skippy stirbt (Teil 3)
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Schulglocke, die seinen Tag in Dreiviertelstundenportionen
zerteilt, das Zeitgefühl verliert. Kaum ist er aus dem Bett, scheint es schon
wieder dunkel zu werden; er wird immer abhängiger vom Fernsehen, um überhaupt
noch einen Bezug zur Realität zu behalten, und bei jedem Stromausfall denkt
er, in der ersten totalen Finsternis, bevor seine Augen sich umstellen, dass er
es ist, den sie abgeschaltet haben.
    Gestern hat Finian Ö Dälaigh bei ihm vor der Tür
gestanden, mit einer Karte, auf der die gesamte Belegschaft von Seabrook
unterschrieben hat. Zuerst dachte Howard, sie sei für ihn, als Zeichen der
Solidarität. Falsch gedacht, natürlich; sie war für Tom Roche. Im Rahmen des
Konzerts soll eine kleine Zeremonie stattfinden, in Anerkennung seines
jahrelangen, verdienstvollen Wirkens für Seabrook. »Ich fand, da dürfen Sie
nicht fehlen«, hat Ö Dälaigh umsichtig angemerkt. Howard hat sich bedankt,
seinen Namenszug innen in der Karte auf einen freien Platz geschrieben und es,
nach einigem Überlegen, dabei belassen.
    Eine Zeremonie in Anerkennung seines jahrelangen, verdienstvollen
Wirkens für Seabrook. Heute, auf der Heimfahrt vom Supermarkt mit einem
Kofferraum voll Billigbier, hat Howard vor der Polizeiwache angehalten und ist
volle fünf Minuten dagesessen, in der Kälte. Dann ist er weitergefahren, nach
Hause.
    Er fängt schon früh mit dem Trinken an und unternimmt
zusätzlich, als die fatale Stunde des Konzerts näher rückt, einen halbherzigen
Angriff auf die schleichende Entropie, die das Haus befallen hat. Er kommt
nicht weit; alsbald hockt er mit einer Schachtel voller Erinnerungsstücke an
Halley auf dem Boden - Fotos, abgerissene Kinokarten, Museumspläne aus fremden
Städten, alles vor ihm ausgebreitet, wie so oft in letzter Zeit. Je mehr ihm
die Gegenwart entgleitet, desto lebhafter scheint sich die Vergangenheit - die
er so lange hinter sich hat verschwinden lassen, schäumendes Kielwasser, vom
kalten, unendlichen Ozean einer Welt gelebter Leben verschlungen - zu
entfalten; ein Gefühl, das sich noch verstärkt, wenn der Strom wegbleibt und er
im schwindenden Tageslicht eine Kerze anzünden muss. Es macht ihm nichts aus -
im Gegenteil, wenn es nach ihm ginge, könnte er mit Vergnügen den Rest seines
Lebens damit zubringen, Städtereisen, Urlaube, Feste im Freundeskreis noch
einmal zu durchleben. Er wünschte nur, Halley wäre dabei, dann könnte er sagen: Hey!, schau mal hier, erinnerst du dich noch an das
und das? Und sie antworten hören: Ja, ja, so war es.
    Und dann findet er ganz hinten in einem Schrank die Kamera
- die magische Sommerkamera, über die Halley vor ein paar Monaten eine
Besprechung geschrieben hat. In freudiger Erregung - sind darin doch
richtiggehende Aufnahmen von ihr gespeichert? - schaltet er sie ein; und
Sekunden später ist sie da, an jenem Tag in der Küche, eine Zigarette in der
Hand, im schrägen Lichtschein. Sein Herz macht einen Hüpfer, als sie ihm da vom
Display entgegenschimmert, und wird schwer, als die kleine Szene unerklärlich
und unaufhaltsam in einen Streit mündet. Mit tauben Fingern spielt er die Sequenz
noch einmal ab, sieht, wie ihr Gespräch zerfranst, hört sie sagen, vergiss es,
tu das Ding weg. Selbst auf dem winzigen Bildschirm ist die Traurigkeit unverkennbar,
die sich in ihr Gesicht eingegraben hat. Das warst du, Howard.
    In seinem Kopf dröhnt es wie von tausend Glocken. Er schaltet
die Kamera aus und legt sie hin. Er rafft die Fotos, die Abrisse und
Eintrittskarten zusammen, aber die Schachtel rutscht ihm aus der Hand, und ihr
Inhalt, all die so gewissenhaft falsch erinnerten Tage, verstreut sich über den
Boden. Er brüllt los, bückt sich erneut, um sie aufzusammeln, doch diesmal
verbrennt er sich den Ellbogen an der Kerze. Scheiße! Elende Scheiße!
Wutentbrannt mit den Zähnen knirschend streckt er die Hand aus und hält sie in
die Flamme, so lange er kann und dann noch ein bisschen länger, bis alle
Gedanken aus seinem Kopf gesengt sind, und dann noch weiter. Tränen rinnen ihm
über die Wangen, Blitze zucken unter seinen Lidern auf. Der Schmerz ist
frappierend, wie eine neue Welt unter dieser, roh und wild und bebend. Es
riecht durchdringend nach brutzelndem Fleisch. Endlich zieht er mit einem
Aufschrei die Hand weg und wankt ins Bad.
    Seine Hand ist völlig untauglich; sie fühlt sich an wie
eine fremde Substanz, ein Klumpen aus Feuer oder purem Schmerz, der am Ende
seines Arms pappt. Er lässt kaltes Wasser darüber laufen, es

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