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Murray,Paul

Murray,Paul

Titel: Murray,Paul Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Skippy stirbt (Teil 1)
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Getrommel.
    Vielleicht
ist alles, woran er so viele Jahre geglaubt hat, falsch? Vielleicht gibt es im
Herzen des Menschen doch kein Körnchen Anstand, das darauf wartet, ans Licht
geholt zu werden, vielleicht ist der Mensch niederträchtig bis ins Mark, jedes
Aufflackern von Tugend nur eine Lichterscheinung, ein - wie lautet das Wort? -,
ein Elmsfeuer. In diesen dunkleren Nächten (und heutzutage erscheinen die
meisten Nächte dunkel) fragt er sich, ob er sich nicht vierundvierzig Jahre
lang für einen Mythos abgerackert hat.
    Ist
es nicht seltsam, wie eine einzige zufällige Begegnung die eigene Situation in
ein völlig neues Licht rücken kann? Wie ein kurzes, scheinbar völlig
unbedeutendes Gespräch einen Weg nach vorn weisen kann, einen neuen Pfad
aufzeigen, wo vorher keiner war? An diesem Abend war Pater Green »Gregs«
Verlangen nachgekommen und die Treppe zum Turm hinaufgestiegen, um sich bei
dem Jungen zu entschuldigen, dessen Gefühle er angeblich verletzt hatte. Das
war natürlich Unsinn; zum einen war er dabei erwischt worden, wie er in der
Klasse obszöne Reden geführt hatte, zum anderen hatten diese Jungen überhaupt
keine Gefühle, sie waren geradezu die Verkörperung der modernen Epoche, empfindungslos
bis auf die Knochen, und Pater Green hatte seinen kleinen Pilgergang im selben
Geist der Gleichgültigkeit und Vergeblichkeit unternommen, mit dem er in
letzter Zeit so viele seiner Pflichten erledigte. Doch kaum hatte der Junge die
Tür geöffnet - nun ja, es wäre übertrieben, es ein Damaskus zu nennen, völlig
übertrieben, absurd. Und doch war es in diesem Moment, diesem versilberten
Moment auf der Schwelle klar, dass der Pater einen Fehler begangen hatte. Er
hatte sich in diesem Jungen geirrt, und der Schock hallte immer noch in ihm
nach und ließ ihn die Frage stellen, welche Fehler er womöglich sonst noch in
der jüngeren Vergangenheit begangen haben mochte. Denn man sah - unmöglich, im
Nachhinein zu beschreiben, mit welcher Klarheit, welcher Lebendigkeit -, man sah förmlich die Unschuld im
Gesicht dieses Jungen. Er war anders - warum hatte Pater Green das
bisher nicht bemerkt? Zum einen jünger als seine Kameraden: noch nicht in der
Sickergrube der Pubertät versackt, noch mit der feinen Vollkommenheit des
Kindes begabt, die rosige Haut noch makellos, der Blick hell und klar. Doch das
war nur ein Teil davon. Er hatte etwas Zerbrechliches an sich, etwas
Unirdisches, eine Reinheit, die fast an eine Art vorweggenommenen Schmerz
grenzte, wie eine Frucht, die schon von der geringsten Berührung unweigerlich
einen dunklen Fleck bekommt; und ein Schatten von Kummer, vielleicht über die
Nichtswürdigkeit der Welt, in der er leben musste, dessen Anblick Pater Green
zu spontaner Zärtlichkeit bewog, wie er sie schon lange nicht mehr empfunden
hatte; und er hatte die Hand ausgestreckt, um den Jungen zu trösten. (Als er
sich jetzt daran erinnert, durchströmt ihn diese Empfindung erneut, und in dem
einsamen Büro öffnet sich seine Hand, um die Luft zu liebkosen.)
    Die
folgende Unterhaltung war banal: Ob er sich besser fühle. Ja. Ob er Pater
Greens Entschuldigung für seinen Wutausbruch annehme. Ja. Aber Pater Green
hatte bereits eine bedeutsame Lektion gelernt: dass auch Verzweiflung eine
Sünde ist, eine besonders heimtückische noch dazu, weil sie die Beispiele von
Gottes Gnade verdeckt, die unter uns sind, und uns zu Egoismus und
Hartherzigkeit treibt. Er hatte sich von Pessimismus umwölken und von Wut
hinreißen lassen, doch Gott in seiner Barmherzigkeit hatte ihm Gelegenheit zur
Sühne gegeben. Und welcher Art seine Buße sein wird, liegt auf der Hand: Er
muss diesem Jungen helfen. Denn hier ist jemand, dem man helfen kann, der
vielleicht noch vor den Verheerungen der Zeit gerettet werden kann - auf
subtile Weise natürlich, indirekt, eine unsichtbare Hand, die ihn sacht zum
Guten lenkt. Das konnte man doch noch tun, nicht wahr, man konnte doch einen
Jungen noch unter seine Fittiche nehmen? Und indem er ihn rettete - Pater
Greens Verstand überschlägt sich jetzt fast -, konnte er dabei nicht auch
seine eigene verlorene Vergangenheit wiederentdecken? Konnte dieser Junge nicht
vielleicht der Lot sein, der, für Pater Green, die sündige Stadt rettet, in der
er sich verirrt hat? Noch während er sich die Frage stellt, hört er sein Herz
unmissverständlich antworten: Ja! Ja, Jerome, ja!
    War
das ein - Lachen? Hat er jemanden lachen hören, dort draußen im Dunkeln? Einer
der Jungen, zweifellos

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