Muschelseide
anders zu denken.
Alle glauben, dass ich verreist sei. Meine Eltern haben überall erzählt, ich sei in Arosa, in der sommerfrischen Schweiz. Der Arzt hätte mir eine Kur verschrieben. Ja, es bestünde Verdacht auf Lungenentzündung. Ich hätte Gaetano gepflegt und mich bei ihm angesteckt. Ich hätte fast gelacht, als sie mir das sagten, das bösartige, zynische Lachen, das kommt, wenn man alle Tränen geweint hat. Mit achtzehn, sobald mein Kind geboren ist, werde ich Valletta verlassen. Dann werde ich eine reiche Frau sein, die tun und lassen kann, was sie will. Das ist mein einziger Trost. Alles ist bereits geregelt, Gaetano hat mich zu seiner Alleinerbin bestimmt. Das Geld gehört mir und nach mir meinem Kind, Mädchen oder Junge, sobald es volljährig ist. Der alte Salvu trug Gaetano auf dem Rücken, die Treppen hinauf oder hinab oder auch nach draußen, wenn in jener Stunde zwischen Rosenkranz und Abendessen der Garten kühl und duftend war. Gaetano hatte hohes Fieber, die frische Luft tat ihm gut. Seine Wunden schwärten, aber sein Kopf war klar. Kurz bevor er starb, sagte zu mir: »Kleine Schwester, die Tage sind für mich jetzt sehr lang. Du bist mutig und stark. Für dich und das Kind ist gesorgt. Bereue nichts, geh hinaus ins Leben! Sag mir, dass du keine Angst hast.« Ich hatte meinen Kopf auf seinen Arm gelegt. »Ich werde keine Angst haben, das verspreche ich dir!«
Er hatte gelächelt. »Ja, das ist gut. Jetzt kann ich ruhig von dir gehen.«
Da habe ich begonnen, zu weinen. Und dann haben wir beide geschwiegen. Er hat mein Haar mit seiner unversehrten Hand gestreichelt, lange und immer wieder. Und als ich nach einer Weile mein Gesicht zu ihm hob, habe auch ich ihn weinen gesehen. Zum ersten und letzten Mal.
Es war Gaetano, der mir sagte, dass ich alles aufschreiben sollte.
»Im Laufe der Jahre wirst du vieles vergessen. Aber später wird dein Kind nach seinem Vater fragen. Es ist wichtig, dass es weiß, wer er war und wie er gestorben ist.«
Doch ich sagte: »Was, wenn die Eltern mein Tagebuch finden?«
Da lachte er, und wie er lachte! Leise und erstickt und gleichsam verzweifelt. »Kleine Schwester, die Eltern wissen bereits alles!«
»Aber meine Gedanken nicht!«
»Nein, noch nicht. Aber meine kennen sie sehr wohl und akzeptieren sie. Und so werden sie auch die deinen akzeptieren.«
Und jetzt schreibe ich also, ich, die ich schon seit Monaten keine Zeile mehr geschrieben habe, plötzlich wieder so geläufig wie früher als Schulmädchen. Ich schreibe, nicht nur, um mich selbst zu betrachten, sondern um wieder bei dir zu sein, um alles noch einmal mit dir zu erleben. Ich bin ein wenig ungelenk geworden, ein wenig ängstlich, mich dir auf diese Weise zu nähern, und doch verlangt es mich danach, ich muss es tun. Ich will die kurze Zeit, die wir hatten, aufspüren und wiederfinden. Ich will die Erinnerungen zu Papier bringen, rasch, rasch, bevor sie verblassen. Manchmal denke ich, alles war nur ein Traum, aber was ist das Leben, wenn nicht ein Traum? Wäre nicht das Kind, das sich in mir regt, müsste ich glauben, dass nichts wahr ist, nichts wirklich, dass ich dich nur erfunden habe. Ich weiß jetzt, was du meintest, als du beim Abschied zu mir sagtest: »Bedenke, was für ein gebrechliches Ding das Leben ist. Tu so, als sähest du jeden Tag des Lebens als den letzten an. Lass die Vorstellung eines langen Lebens nie Gewalt über dich gewinnen, denn sonst würdest du dich selbst verlieren. Nur wenn du den Gedanken an den Tod allezeit im Herzen trägst, wirst du ewig leben ... «
Das waren große und schwierige Gedanken für eine junge Frau. Jetzt aber verstehe ich sie besser. Die Gewissheit des Todes lenkt auf der einen Seite die Gedanken über die Schranke des Daseins hinaus und macht sie auf der anderen Seite schärfer, empfänglicher für die Erfüllung der Pflicht.
Seltsamerweise habe ich ein Gefühl, als habe mein Geist sich bereits aus seiner gegenwärtigen Umgebung entfernt. Körperlich bin ich hier, in diesem Zimmer, in diesem Bett, auf weiche Kopfkissen gestützt, umsorgt von Paola, die mich wäscht, mich kämmt, mir das Essen bringt. Ich spüre, wie der gänzliche Mangel an Bewegung und frischer Luft mich betäubt, wie meine Hände vom Schreiben kraftlos werden. Paola massiert meine Arme und Beine, Paola bürstet mein Haar; sie summt leise vor sich hin, immer die gleichen Volkslieder. Paola ist nur zwölf Jahre älter als ich. Wir sprechen zusammen »Malti«. Judith, meine Mutter,
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