Muschelseide
mein Wissen über die Welt, trotz meines ständigen Lesens – das Mutter ebenso missfiel wie meine täglichen Spaziergänge. Ach, wie ich nach Wissen dürstete! Je mehr ich lernte und beobachtete, desto neugieriger wurde ich. Natürlich hatte ich oft auch ganz oberflächliche und eitle Gedanken. Lächelte mich ein Unbekannter an – auch wenn er mir nicht vorgestellt worden war –, musste ich mich stark zusammennehmen, um nicht zurückzulächeln, weil das eben kein anständiges Mädchen tut. Ich beschäftigte mich durchaus mit ernsten Dingen, aber ich stand oft vor dem Spiegel und fragte mich: Angenommen, ich wäre hässlich, würden sich die jungen Leute dann auch für mich interessieren, auch wenn ich das klügste Mädchen der Welt wäre? Könnte ich jemanden finden, der mich wegen meiner inneren Werte lieben würde? Aber das waren Gedanken eines Mädchens, das ein hübsches Gesicht hatte und schönes Haar, und darin steckte die Binsenweisheit, dass ich mir nicht vorstellen konnte, jemand anders zu sein als ich selbst.
Das war in der glücklichen Zeit, bevor der Krieg ausbrach. Die politischen Zusammenhänge waren mir zunächst ganz und gar unklar; ich erinnere mich daran, wie unwillkommen sie mir waren, wenn am Familientisch darüber gesprochen wurde. Doch nach einer gewissen Zeit wurde ich unruhig, stellte Fragen, über die ich zu hören bekam, dass sie »unpassend« oder »schwierig« seien. Mir fiel bald auf, dass die Eltern ganz anders mit meinem Bruder sprachen als mit mir, und es hing nicht nur mit dem Altersunterschied zusammen. Sobald Gaetano seine Meinung äußerte, wurde er ernst genommen, auch wenn sie sich mit der meiner Eltern nicht deckte. Von mir wurde erwartet, dass ich mich nicht einmischte. Ich bekam Antworten, die nur mehr Fragen hervorriefen. Antworten, die keine Antworten waren. Ich fühlte mich zutiefst beleidigt. Und weil ich wissen wollte, worum es ging, gewöhnte ich mir an, die Zeitung zu lesen, sobald mein Vater sie beiseitelegte. Da ich sehr schnell lese und ein gutes Gedächtnis habe, weitete sich recht bald mein eher beschränkter Horizont. Durch die Eröffnung des Suezkanals 1869 war Malta für die Briten die wesentliche Schaltstelle auf dem Weg vom Mutterland zur Kanalzone und darüber hinaus zu den Kolonien. Die die Ursachen das Krieges, der nun auch Malta bedrohte, waren äußerst komplex, aber allmählich entdeckte ich die Bezugs- und Verbindungspunkte. Die europäischen Bündnisverflechtungen hatten einen unerbittlichen militärischen Mechanismus in Gang gesetzt. Fast war mir, als könnte ich das Klicken hören, wenn jede Macht sich in die ihr zugeordnete Stellung einklinkte. Dieses Gefühl war unheimlich und schrecklich. Aber warum war alles so gekommen? Ich wusste ja bereits, wie gefährlich die rasche wirtschaftliche Expansion Deutschlands für die See- und Kolonialmacht Großbritannien wurde; man sprach am Familien tisch darüber. Auf der anderen Seite gab es starke französisch-deutsche Spannungen, zugespitzt durch Frankreichs Kriegsniederlage in den Jahren 1870/71 und die deutsche Annexion Elsass-Lothringens. Ein anderer Krisenherd schwelte auf dem Balkan, wo Österreich-Ungarn und Russland ihre Einflusssphären festigen wollten. Das Zarenreich verfolgte eine Prestigepolitik und schürte die Probleme innerhalb des habsburgischen Vielvölkerstaates. Deutschland unterstützte Österreich-Ungarn, dehnte seinen Einfluss auf das Osmanische Reich aus, um dem russischen Vordringen durch die Meerengen, dem Bosporus und den Dardanellen, entgegenzuwirken. Die Marokko-Krisen 1905 und 1911, die österreichische Annexion Bosniens und der Herzegowina 1908 sowie die Balkan-Kriege 1912/13 hatten Europa bereits an den Rand eines allgemeinen Krieges geführt. Zwei gewaltige Koalitionen hatten sich formiert: auf der einen Seite die Mittelmächte mit Deutschland, Österreich-Ungarn, denen sich das Osmanische Reich angeschlossen hatte; auf der anderen Seite die Mächte der »Entente cordiale «, zunächst mit dem französisch-russischen Zweibund, danach auch mit Großbritannien, Frankreich, Italien und Russland.
Unmittelbarer Kriegsanlass war die Ermordung des österreichisch-ungarischen Thronfolgers Erzherzog Franz Ferdinand durch den serbischen Nationalisten Gavrilo Princip am 28. 6. 1914 in Sarajevo gewesen. Es folgte ein Monat hektischer diplomatischer Aktivitäten. Nachdem Serbien ein scharfes österreichisches Ultimatum hatte verstreichen lassen, erklärte ihm Österreich-Ungarn mit
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