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Muschelseide

Muschelseide

Titel: Muschelseide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Augenhöhe die unteren Tiefen erkennbar wurden. Dort schwebten gespenstische Formen durch das Grün und das Blau, undefinierbare Klumpen, die an aufgeschlitzte Leiber und abgehackte Gliedmaßen denken ließen, verfault bereits und zu Muschelwerk zerstoßen, umflossen von dem Seidenglanz strömenden Wassers. Gelegentlich waren am oberen Teil des Bildes ein eisfarbener Mond oder eine wild lodernde Sonnenkugel sichtbar, während die dahintreibenden Formen Gesichter zeigten, die nur Umrisse waren, und Augen wie schwarze Löcher. Dann wie der schienen die zerfetzten Etwas sich in Quallen zu verwandeln, in Fische oder in jene Wesen unbekannter Art, die sich auf dem Meeresgrund mit nachschleifendem Funkenschweif bewegten ...
    Ein Frösteln überlief mich, als mir endlich bewusst wurde, was ich da eigentlich sah. Ich legte die Hand auf den Mund, erkannte die Gestalten von Ertrunkenen, die so lange dem Meer überlassen waren, bis sie selbst zu Wasserwesen geworden waren, hingegeben der Kraft der Sonne und des Mondes. Die Fluten schwollen heran, die Verstorbenen trieben in ihrer Wasserhülle dem freien Meer entgegen. Dabei enthüllten die Bilder einen Gedanken, den ein Dichter, dessen Name mir entfallen war, mit den Worten ausgedrückt hatte: »Das Meer ist der Beweis, dass Gott weinte, bevor er die Menschen schuf.« Aber das Wunder dieser Bilder war, dass sie nicht Abscheu vermittelten, sondern Ruhe, nicht Entsetzen, sondern Versöhnung und Frieden. Aus der brutalen Wirklichkeit hatte die Künstlerin etwas Edles gemacht; ihre Bilder sprachen eine sanfte Sprache. Sie zeigten Schmerz und Verwesung als Muster des letztlich Hinzunehmenden und den Tod kristallklar wie das Meer, nachdem es alles Blut in Wasser verwandelt und alle Stürme besiegt hat, zum lichtdurchströmten, heiligen Grab geworden ist, zur ursprünglichen Heimat, zu einem Ort der Wiedergeburt, an dem alles Leuchten erwacht ...
    »Ach ... Francesca!«, entfuhr es mir. Es waren meine ersten Worte, seitdem ich in ihrem Atelier stand. »All diese Bilder in so kurzer Zeit! Du musst ja Tag und Nacht gearbeitet haben.«
    Ihre Antwort kam ohne jegliches Zögern und vollkommen sachlich. »Ja, es war in letzter Zeit etwas viel für mich. Aber ich stelle im Oktober im Saint James Cavaliers Centre aus. Es macht mich krank, aber ich muss rechtzeitig fertig werden.«
    Ich schluckte.
    »Was sagt Ricardo denn zu den Bildern?«
    »Er steckt seine Nase nicht in mein Atelier!«, fauchte sie. »Wie käme er dazu?«
    Sie hatte ihren Malkittel übergezogen und war dabei, ihre Palette vorzubereiten. Ich versuchte ein letztes Mal, sie zur Vernunft zu bringen.
    »Himmel, Francesca! Du bist nicht mehr jung. Willst du nicht lieber ...«
    »Ich weiß, dass ich eine alte Frau bin«, zischte sie. »Mach dich bloß nicht lustig über mich! Arbeiten – das ist das Mindeste, wozu ich noch verpflichtet bin. Kannst du ruhig sein, wenn du etwas zu tun hast und noch nicht fertig bist?«
    »Eher nicht«, gab ich demütig zu.
    Ich wandte mich um, wollte das Zimmer verlassen. Da legte sie ihre Palette auf den kleinen Tisch, der neben der Staffelei stand, schlug sich mit der geballten Faust an die Stirn.
    »Jetzt beginne ich tatsächlich, die Dinge zu vergessen. Das hast du davon, dass du mich so nervös machst. Was wollte ich eigentlich? Ach ja!«
    Sie trat zu der kleinen Kommode, die auszurangieren ich ihr damals geholfen hatte, ging schwerfällig in die Hocke. Fahrig und gleichzeitig zielstrebig wühlte sie in einem Haufen Wäsche, fand endlich, was sie suchte. Mit der ganzen Kraft ihrer linken Hand stieß sie die Schublade wieder zu und richtete sich auf, wobei sie in der Rechten einen Gegenstand hielt, der in altes Seidenpapier verpackt und mit einem blauen Band verschnürt war. Als sie das Band gelöst und das Papier abgestreift hatte, kamen vier Hefte zum Vorschein, blau eingebunden, wie es sich für die Aufsatzhefte früherer Schülergenerationen gehört hatte.
    »Ich hätte sie dir längst geben sollen«, murmelte sie.
    Ich griff so fassungslos nach den Heften, dass meine Hand ins Leere fuhr. Längst hatte sich der Einband grau verfärbt, ein paar Blätter, lose geheftet, flogen, stoben auseinander, sanken zu meiner Bestürzung zuckend zu Boden.
    »Sei nicht so ungeschickt!«, zischte Francesca.
    Ich blätterte die vergilbten Seiten auf; sie waren vorn und hinten eng mit Bleistift beschrieben. Ja, dachte ich, damals legte man noch Wert auf Schönschrift. Die Buchstaben war akkurat geformt, die

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