Muschelseide
hört es nicht gern, denn Malti ist die Sprache der gewöhnlichen Leute. Wir in der Familie sprechen Italienisch oder Englisch. Der katholische Johanniterorden umfasst nahezu alle Länder Europas. Die Vorfahren meines Vaters Emilio gehörten zur »italienischen Zunge«. Ursprünglich stammte unser Geschlecht aus Mailand, aber wir sind Maltesen seit sechs Generationen. Ich habe Verwandte auf der ganzen Welt, in Südafrika und in Australien.
Judiths Familie gehört zur »englischen Zunge«. Ihr Vater war Hochschulprofessor, ihr Bruder Historiker. Meine Mutter! Ihr Gesicht strahlt eine angenehme Ruhe aus; oft überrasche ich sie dabei, wie sie ihre Lippen zusammenkneift, wie sie versucht, ein spontanes Lächeln zu verbergen und ernst zu bleiben. Selbst dort, wo sie doch die Meinung der Leute gewiss nicht zu fürchten braucht und genau weiß, dass ihre Kleidung und ihr Schmuck nach den Regeln des vornehmen Geschmacks untadelig sind, bemüht sie sich um eine steife, unnahbare Haltung. Ihre Mutter – meine Großmutter also – war eine Adelige aus Dublin mit einem wunderschönen Gesicht, aus der eine Musikerin hätte werden können, wenn nicht Ehe und Kinder, gesellschaftliche Verpflichtungen und tausend Verwandte ihr kurzes Leben verbraucht hätten. Ihre Schwester Rachel zeigte mehr Eigenwillen, indem sie Krankenschwester wurde und sich an Florence Nightingales Seite den furchtbaren Strapazen des Krimkriegs aussetzte, um Verletzte zu pflegen. Sie wurde in der Familie sehr verehrt, heiratete spät und starb früh, wahrscheinlich an einer verschleppten Tuberkulose. Von ihrer einzigen Tochter Rosella habe ich die Erinnerung an eine durchaus liebenswürdige, aber schweigsame Frau, die in Cambridge lebt und Kinderbücher schreibt. In unserer Familie war man wohl den Künsten zugetan, aber Begabung wurde nur gepflegt, wenn die täglichen Pflichten nicht vernachlässigt wurden; Rosella war längst über dreißig und unverheiratet. Daneben gibt es in der Familie sehr wohl einige modisch-elegante Lebeleute, die in Künstlerkreisen verkehren oder sich etwas aus Pferderennen machen. Verwandte, die meine Mutter etwas fürchtet, und zu denen sie selten Kontakt pflegt. Es fehlt ihr an Selbstwertgefühl; ihr ganzes Wesen verlangt nach einem Mann, der sie leitet. Ist mein Vater bei ihr, dann ist sie ausgeglichen und jeder Schwierigkeit gewachsen. Ist er aber nicht da, ist sie ganz ihrer eigenen Unzulänglichkeit ausgeliefert. Wie oft hörte ich sie sorgenvoll zu Gaetano sagen: »Dein Vater ist spät heute Abend. Hoffen wir, dass ihm nichts zugestoßen ist.«
»Mama, du brauchst keine Angst zu haben«, antwortete Gaetano. »Papa ist doch im Club. Und er ist mit dem Coupé unterwegs. Timeo wartet auf ihn.«
»Ach!«, rief die Mutter. »Du weißt doch, dass auf Timeo kein Verlass ist! Er trinkt und geht zu schlechten Frauen.«
»Aber Mama, doch nur am Sonntag!«, sagte Gaetano gutmütig.
Timeo – unser Kutscher – war für seine Vorliebe für Branntwein und seine lockere Lebensweise bekannt. Meine Mutter wollte, dass wir ihn entließen, aber mein Vater schätzte ihn. Timeo, der stets zusammengesunken auf dem Bock saß, der mit so weicher, sensibler Hand unsere großen Lusinater lenkte, Timeo wusste einfach alles. Mein Vater nannte ihn »meine Tageszeitung«, er konnte durch ihn Auskünfte über alles, was in der Stadt geschah, einholen, was seinen Bankgeschäften bisweilen zugute kam. Emilio meinte dazu: »Manchmal ist es die Lüge, die die Wahrheit sagt«, was meine gute Mutter entsetzte. Sie mochte nicht, wenn mein Vater solche Dinge sagte. Aber für Emilio gab es nichts Unerfreulicheres als Dinge, die er zu spät erkannte.
Gaetano, der durchaus im Bilde war, begegnete Mutters Missvergnügen mit freundlicher Gelassenheit und unterschwelligem Spott, den sie unfähig war herauszuhören. Und natürlich machte sie sich auch Sorgen um mich. Kurz bevor Gaetano sich nach Sizilien einschiffte, hörte ich bei der Rückkehr von meinem gewohnten Spaziergang, wie Judith sich über mich beklagte. Sie befanden sich im kleinen Salon, wo die Mutter sich nachmittags gern aufhielt. Beide hatten meine Anwesenheit nicht bemerkt. Die Tür war nur angelehnt. Es war unhöflich, dass ich zuhörte, aber ich war neugierig, weil sie ja von mir sprachen.
»Das gedankenlose Mädchen ist wieder nicht in seinem Zimmer!«, sagte Mutter. »Sie wird fünfzehn und verlässt das Haus, morgens oder abends, wie es ihr gerade in den Sinn kommt. Und keiner weiß, wo
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