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Muschelseide

Muschelseide

Titel: Muschelseide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Zeilen gestochen scharf, obwohl an verschiedenen Stellen verwischt, von Radiergummi, Wasser oder Tränen.
    » Cecilias Tagebuch!«, flüsterte ich rau.
    Francesca nickte mit ausdruckslosem Gesicht.
    »Eigentlich habe ich das morbide Interesse an anderen Menschen, an ihren Leben, ihren persönlichen Angelegenheiten, nie ausstehen können. Und doch bin ich in den gleichen Fehler verfallen, habe mich auf diesen Schwachsinn eingelassen. Und was habe ich dabei herausgekriegt? Nichts! Da spielten zu viele Dinge mit, zu viele Leute, die Ereignisse brachen unter ihrem eigenen Gewicht zusammen. Tja, und jetzt hängen alle Fäden in der Luft. Die Verbindung ist abgebrochen.«
    »Francesca, ich verstehe in keiner Weise ... «
    Sie schnitt mir wütend das Wort ab.
    »Soll ich mir den Mund fusselig reden? Verschwinde jetzt und lies, was Cecilia geschrieben hat. Vielleicht wirft es ein Licht ... Ja, und meinetwegen kannst du es auch Ricardo und ... wie heißt er noch gleich? ... ach ja, Herrn Imada ... zeigen, mir ist das jetzt völlig gleich, ob sie die Geschichte kennen oder nicht. Sie sollen bloß nicht glauben, dass ich verrückt bin. Ricardo denkt das ja schon lange. Sie ist verrückt!, denkt er. Verrückt und böse ... «
    »Aber das ist nicht wahr ... «, begann ich.
    Sie ließ mich nicht ausreden.
    »Genug jetzt! Lass mich arbeiten. Domenica soll mir das Essen bringen. Und eine Tasse Kaffee, ja? Ein starker Kaffee ist gut.«
    Mit diesen Worten hielt sie mir die Tür auf, wie eine Diva auf der Opernbühne, sodass ich nicht anders konnte, als kleinlaut an ihr vorbeizuhuschen. Die Tür knallte hinter mir ins Schloss. Ich stand oben, im Hell-Dunkel des Treppenhauses, und hielt Cecilias Tagebuch in den Händen. Zögernd ging ich weiter, und auf halbem Weg zur Treppe war mir, als ob ich ein ersticktes Gelächter hörte, das von oben kam. Ich drehte mich um, starrte hinauf und fürchtete mich, zu zwinkern, fürchtete mich, einen Schatten zu sehen, der von dort herkam, wo die Toten waren. Und da glaubten tatsächlich meine Augen, fest auf das Dachfenster gerichtet, den Umriss eines Gesichts zu sehen und einen bronzebraunen Lichtfleck, wie wirbelndes Haar. Doch die alten Bäume standen hoch, sie glichen mehr Skeletten als wirklichen Bäumen, besonders im Hochsommer, wenn das Laub dürr wurde; was gegen die Ziegel kratzte, waren nur die Zweige. Ein paar Sterne wurden als Lichtflecke widergespiegelt. Ich starrte so lange nach oben, bis ich nicht mehr wusste, was oben und was unten war. Der schmale Mond schimmerte durch das Laub wie durch einen Spitzenschleier. Und da trieb in seinem Widerschein Cecilias Gesicht vorbei, klar und tot, die Lippen in einem seltsamen Lächeln erstarrt.
    CECILIA
    Der Schrank ist alt, der Spiegel trübe. Wenn ich mich betrachte, erkenne ich mehr meine Kleidung – dieses scheußliche Nachthemd –, als mich selbst. Wie hässlich ich geworden bin! Das Gesicht blass und eingefallen, mit blauen Ringen unter den Augen. Wie mager auch, abgesehen von dem vorgewölbten Bauch. Im Zimmer ist es zum Ersticken; das Licht blendet mich, meine Augen fühlen sich klebrig an. Die Hitze bringt alle Gerüche zum Gären, erhöht den sauren Geruch aus dem Nachtgeschirr, den muffigen Geruch der Matratze. Der heiße afrikanische Wind – der Scirocco – wirbelt über die Dächer. Ich darf nicht mehr in den Garten, die Nachbarn oder deren Hausmädchen könnten mich sehen. Das Fenster öffnen, Luft schnappen, das kann ich nur nachts. Manchmal steige ich auf einen Stuhl, lehne mich weit nach draußen, auf die noch warmen Ziegel. Draußen wartet der Tod, ich sehe ihn deutlich, er schwebt über den Dächern und grinst mich an. Aber der Tod war schon da, er kam für Gaetano, für S. und für viele andere. Er ist bereits satt geworden; vielleicht neckt er mich nur und schreitet mit seinen Knochenschritten weiter. Doch ich sehe ihn, Nacht für Nacht. Ich habe Angst, aber ich kann ja sonst nichts tun. Manchmal werfe ich ihm einen Gruß zu. »Hallo, Mister Tod!« Dann habe ich das Gefühl, dass er die fahle Hand bewegt. Es ist wirklich verrückt, dass ich so denke. Ich versuche, in meinem Kopf Leere zu schaffen. Ist das überhaupt möglich? Mir gelingt es jedenfalls nicht, oder nur so schlecht, dass meine Gedanken in dichteren Schwärmen zurückkehren, eben weil ich sie verjagt habe. So greife ich denn, auf der Suche nach einem Mittel, vom Denken loszukommen, zum Bleistift. Schreiben heißt auch, nicht mehr zu denken, oder vielmehr,

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