Muschelseide
schmerzt.«
Das waren die letzten bewussten Worte, die er sprach. Ein Krampf schüttelte ihn. Das Licht in seinen Augen schimmerte ein letztes Mal auf und erlosch. Er dämmerte in Fieberträumen dahin. Als es sich erwies, dass er den kommenden Morgen nicht erleben würde, wurde eilig Pater Del Savio gerufen. Ich hörte das Glöckchen im dunklen Treppenhaus klingeln, das Glöckchen des Viatikums, die Kirche war ja gleich gegenüber. Der helle Klang ertönte auf der Treppe, im Flur. Der Priester trug in der von einem bestickten Etui behüteten Hostienkapsel das Sanctissimum. Wir schlugen das Kreuzzeichen, meine Mutter schluchzte leise. Wir blieben im Salon, während der Priester Gaetano die Beichte abnahm und ihm die letzte Ölung gab. Dann zog sich der Priester zurück, und alles wurde still im Haus. Meine Mutter betete, mit dem Rosenkranz aus großen, leise klirrenden Perlen in der Hand. Ich kniete neben ihr, den Blick auf das glatte Antlitz der Jungfrau gerichtet mit dem Jesusknaben im Arm. Ich wollte, dass das Gebet mir Trost spendete, aber mein Geist irrte in den dunklen Winkeln einer Welt voller Tod und Gewalt. Das erste Tageslicht nahte; die Stärke, derer ich bedurfte, konnte ich nur in mir selber finden.
Und so war es dann auch. Gaetano starb, als der Himmel golden leuchtete, als die Hähne in den Gärten der Nachbarn das Aufgehen der Sonne ankündigten. Und als sich seine Augen für immer geschlossen hatten, entspannte sich sein verzerrtes Gesicht, und in seinen Zügen spiegelte sich der Frieden des Jenseits wider.
Der Leichnam wurde gewaschen, in frische Laken und in ein Meer von Blumen gebettet. Ich wunderte mich, wie klein und schmal und zerbrechlich er aussah, mein Bruder mit den bronzenen Locken, den grünen Augen, mein Bruder, der so gut lachen, tanzen und reiten konnte. Der es nicht nur verstanden hatte, mich mit den vielen Kleinigkeiten zu verwöhnen, die ein junges Mädchen bezaubern, sondern auch die Kraft und Entschlossenheit in mir geweckt hatte, die mich zu einem eigenständig denkenden Menschen machten. Meine Eltern hatten den Toten geliebt, weil er ihr Sohn war, nicht, weil sie sich seinem Wesen nahe fühlten.
James und seine Frau Melissa waren nicht anwesend. Man hatte sie telegraphisch benachrichtigt; doch James war bei seinem Regiment, und Melissa wagte aufgrund des Krieges nicht, sich unbegleitet auf Reisen zu begeben. Sie würden zu einem späteren Zeitpunkt kommen.
Und am Morgen der Beerdigung sah ich stumm und tränenlos zu, wie der Sarg aus dem Haus getragen wurde. Aufrecht saß ich zwischen meinen Eltern in der Kutsche, die dem schwarz verhängten Wagen folgte, der von sechs Pferden zum Friedhof der Marine gezogen wurde. Es war ein heißer Tag, kein Lufthauch wehte vom Meer, und ich spürte unter meinem schwarzen Hut den Schweiß, der mir die Haare an die Kopfhaut klebte. Aus der Ferne sah ich das blaue Meer, das Saburos Grab geworden war, ein tiefes Gewässer mit unzähligen Leben. Ein Grab aus Erde für den einen, ein Grab aus Wasser für den anderen, aber beide, Wasser und Erde, waren lebendig und der Tod ein großes Geheimnis. Mir kam in den Sinn, dass sich beide Freunde wieder ganz nahe waren, dass sie sich an einem unbekannten Ort zwischen Zeit und Raum umarmten und ihr Wiedersehen feierten. Sie wurden von Flügeln getragen in eine andere Sphäre, in der es weder Krieg noch Wunden gab, weder Groll noch Pein. Ich aber, die zurückgeblieben war, musste mein Schicksal erdulden, musste Schmerz und Demütigung auf mich nehmen. Ich musste weiterleben, weil mein Kind nicht sterben durfte.
Mit trockenen Augen sah ich den Sarg in das schwarze Loch sinken. Ich war, das kann sich jeder ja vorstellen, Blickfang für die tränenüberströmten Anwesenden. Und während das, was von Gaetano übrig blieb, der Erde anvertraut wurde, spürte ich einen jähen Stich im Leib, der mich zusammenknicken ließ. Ich schrie nicht, doch mein Vater war sofort hinter mir, hielt mich fest. Der Schmerz war ganz entsetzlich. Ich konnte kaum sprechen.
»Was hast du?«, fragte Vater leise. »Fühlst du dich nicht wohl?«
»Ich ... ich möchte liegen«, hauchte ich.
Er stützte mich, wir entfernten uns aus der Masse der Trauernden. Vater half mir, in die Kutsche zu steigen. Ich legte mich auf den Sitz, Vater breitete eine Decke über mich aus.
»Warte hier«, sagte er. »Wir müssen noch bleiben.«
Ich starrte in den gleißenden Himmel; Pappeln flirrten, Lerchen zuckten wie trunken vorbei. Der Schmerz
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