Muschelseide
druckte sie aus. Seine Verletzung hatte sich inzwischen sehr gebessert, auch das Treppensteigen fiel ihm leichter. Er folgte mechanisch meinen Schritten, atmete ein wenig schwer dabei, mehr nicht. Mir aber war, als wenn ich zu meiner eigenen dunklen Seele hinaufstiege, zu dem Geheimnis. Aus weiter, weiter Ferne drang so etwas wie ein Lachen an mein Ohr, als ich an Francescas geschlossene Tür klopfte. Ich machte mich auf eine Zurechtweisung gefasst. Sie hasste es, wenn man sie bei ihrer Arbeit störte. Nach einigen Sekunden ertönte ihre unwillige Stimme.
»Ja?«
»Francesca, mach auf«, sagte ich und rüttelte an der Tür. Stille. Ich blickte Kazuo vielsagend an. Drinnen schlurften
Schritte. Der Schlüssel drehte sich im Schloss, und Francescas
abweisendes Gesicht blickte uns durch den Türspalt entgegen. »Was ist los?«, fragte sie giftig.
»Kazuo hat etwas gefunden«, sagte ich.
Sie schüttelte irritiert den Kopf, als ob sie sagen wollte, es wird nicht von Bedeutung sein. Doch sie ließ uns herein. Das Morgenlicht war klar, und das Zimmer schien voller Regenbögen. Auf der Staffelei stand das Bild, an dem sie gerade malte. Sie hatte das Rosa, Aquamarin und Kastanienbraun verdichtet; die Farben schienen zu vibrieren. Auch die Gestalten traten deutlicher hervor, es war, als ob sie sich der Strömung überließen, in schwingender Bewegung weitertrieben, einer Oberfläche entgegen, die golden leuchtete. Kazuo, der die Bilder zum ersten Mal sah, brach erst nach einer Weile das Schweigen. Und was er sagte, empfand ich als ungewöhnlich.
»Ihre Bilder sind sehr schön.«
Seine Stimme klang verhalten, wie besorgt, etwas geheim Spürbares nicht durch zu laute Worte zu gefährden. Eine Spur von eitler Zufriedenheit zuckte um Francescas Mund.
»So? Sie finden die Bilder schön?«
»Ja. Das Große da, darf ich es aus der Nähe betrachten?« Sie nickte kühl. Er stellte sich neben sie. Francesca ließ ihn nicht aus den Augen.
»Was sehen Sie auf dem Bild?«
Er schüttelte leicht den Kopf.
»Jeder mag sehen, was er will. Malen kommt aus dem Unterbewusstsein. «
Sie machte ein bejahendes Zeichen. Ihr Ausdruck war wieder versöhnlich.
»Künstler tragen Visionen in sich, die näher und näher an die Oberfläche ihrer Gedanken treten. Ich hatte angenommen, dass ich, wenn ich alt bin, sie erkennen und verstehen würde. Aber offenbar bin ich noch nicht alt genug.«
Er lächelte, still und herzlich.
» Hmmm. «
Sie stemmte beide Hände in die Hüften.
»Würde ich nicht dauernd gestört, könnte ich konzentrierter arbeiten. Was haben Sie denn gefunden, das so dringend ist? «
»Ich habe diese E-Mail für Sie übersetzt«, sagte Kazuo.
Sie nahm das Papier mit argwöhnischer Miene, bevor sie sich abwandte. Langsam machte sie ein paar Schritte auf einen Stuhl zu, setzte sich. Ich sah, wie das Papier in ihren Händen leicht zitterte. Draußen zwitscherten die Schwalben, man hörte Reden und gedämpfte Rufe, in der Ferne tutete eine Schiffssirene. Wie wenig, dachte ich, haben sich die Geräusche seit Cecilias Tod verändert! Cecilia war anderswo, hier aber stand die Zeit still; wir waren noch in ihr gefangen. Francesca las die Mitteilung zweimal durch. Dann senkte sie die Hände und hob den Kopf. In ihren schwarz umrandeten Augen lagen Verwirrung und ein Staunen, das ihr Fassungsvermögen nahezu überstieg. Auch ich hatte dieses Staunen empfunden. Aber bei ihr war mehr: ein Schicksalsgefühl, das aus all ihrem Denken und Empfinden hervorbrach. Als sie endlich sprach, hörte sich ihre Stimme tonlos an.
»Früher hasste ich es, wenn etwas in meinem Leben unklar war. Doch in den letzten Jahren nicht mehr. Was ich damit sagen will: Ich habe mich an die Ungewissheit gewöhnt. Letzten Endes kam sie mir zugute.«
Kazuo nickte ruhig.
»Ihrer Bilder wegen?«
»Sie verstehen auch wirklich alles!« Sie zuckte die Achseln. Ihre Stimme klang fester. »Ja, natürlich, meiner Bilder wegen. Ich war immer so berauscht, wenn ich malte, so außer mir, dass die Bilder für mich die eigentliche Heimat und Wahrheit wurden. Und nun, da ich im Begriff bin, zu finden, was ich mein Leben lang gesucht habe, glaube ich zu spüren, dass es mich kaum noch berührt.«
»Sie glauben es zu spüren.«
Kazuo wiederholte die Worte mit ganz anderer Betonung. Sie sah ihn argwöhnisch an.
»Finden Sie das nicht seltsam?«
»Durchaus nicht«, sagte er.
Ich aber, die stets gemeint hatte, dass sie eine Nachricht aus Japan als Erlösung empfinden
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