Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Muschelseide

Muschelseide

Titel: Muschelseide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
Vom Netzwerk:
Aber inzwischen bin ich von Bildern umgeben, die anderswohin gehören. Jetzt würde es für mich schwer werden, mich wieder in Tokio einzuleben.«
    »Sehr schwer?«, fragte ich so, dass er mich verstand.
    »Vielleicht sogar unmöglich. Für Selbstspaltung habe ich wenig Sinn, ich folge lieber der Anziehung.«
    »Und wie stellst du dir dein Leben vor?«
    »Nun, es würde genügen, dass ich ein paar Mal im Jahr nach Japan gehe. Ich müsste das in Tokio jetzt klären.«
    Mein Atem beschleunigte sich. Ich empfand plötzlich eine ganz törichte Freude. Doch ich erwiderte so, dass er aus meiner Stimme keine Erleichterung hören konnte:
    »Das käme dich aber teuer zu stehen.«
    Er lächelte. Vielleicht kannte er mich besser, als ich dachte.
    »Die Zeitschrift zahlt die Spesen. Und in zehn Jahren, da bin ich fünfzig, gehe ich in Rente und spiele nur noch Schach mit Ricardo. «
    »Hättest du keine Lust, zu tauchen? Ich meine ... so ab und zu?«
    »So ab und zu, warum nicht? Nachdem ich im Schwimmbad geübt habe. Und wenn ich stecken bleibe, rettest du mich ja.« »Kazuo! Das ist nicht lustig!«
    »Nein. Entschuldige! Es ist vielleicht nicht der richtige Ort,
    um das zu besprechen. Aber wie wär’s, wenn wir heirateten?« »O doch!«, rief ich. »Es ist genau der richtige Ort!«
    »Du meinst, so zwischen Himmel und Erde?«
    »Da sahen wir uns ja auch zum ersten Mal, oder? Zwischen Himmel und Erde. Sag, macht es dir nichts aus, in einem Haus zu wohnen, das zweihundert Jahre alt ist? Mit meinem Vater und mit Francesca, solange beide leben?«
    »Hör zu«, sagte er ernst. »Meine Eltern verstanden sich nicht. Sie gingen beide ihrem Beruf nach, fuhren eine Stunde mit der U-Bahn und kamen abends kaputt nach Hause. Sie schrien sich nie an, sie hatten sich einfach nichts zu sagen. Inzwischen starrte ich in die Glotze, las verdrossen Mangas und pflegte meine Neurosen. Ich zog, als ich mein Studium begann, in ein Studentenwohnheim. Heute sind beide tot. Die Großeltern meiner Mutter lebten ein paar Jahre länger als sie, in einem Heim, das viel Geld kostete. Das kommt bei uns oft vor, weil die ältere Generation so unglaublich zäh ist. Ich denke aber nicht, dass sie glücklich waren. Ich war ihr einziger Enkel, und sie hingen sehr an mir. Aber ich war viel im Ausland, und Mariko – meine Frau – wollte sie nicht bei uns haben. Außerdem war die Wohnung zu klein. Wohin also mit ihnen? Rückblickend habe ich da so etwas wie ein schlechtes Gewissen. Im früheren Japan lebten mehrere Generationen in einem Haus. Das hatte, solange Eintracht herrschte, Vorteile. Nicht alle Versuche, das Alte und das Neue miteinander zu verknüpfen, gelingen. Aber gegenseitiger Beistand und Rücksicht sind ebenso für die Alten wie für die Kinder gut. «
    »Über Kinder«, erwiderte ich, »kann ich mich schlecht unterhalten. «
    »Willst du keine?«
    Ich seufzte.
    »Ich habe einen Bruder, du kennst ihn noch nicht, weil er in London lebt. Der hat schon vier.«
    »Wie sind sie denn, diese vier Kinder?«
    »Ermüdend«, sagte ich. »Sie sind ermüdend.«
    »Ich sehe schon.« Er schnitt eine Grimasse. »Und wie steht es mit dir?«
    »Ich habe eigentlich keine Gründe, auch noch welche zu kriegen.«
    »In dem Fall könnten wir uns vielleicht einigen ...«
    Wir sahen uns an und fingen in jähem gemeinsamen Glücksgefühl an zu lachen. Ich saß neben Kazuo, während die Wolken tief unten vorbeizogen, ganz der Vollendung dessen hingegeben, was in mir entstand: die Sicherheit, jemanden in der Nähe zu haben, jemandem nahe zu sein, ohne Hindernisse, ohne Pathos und Zähneknirschen. Ein Zusammenleben, erfüllt von gegenseitigem Verständnis und Höflichkeit, eine Liebe, die wir teilen konnten, weil wir unsere innere Welt bereits gefestigt hatten und weil das, was wir fürchteten, nur das Alleinsein war. Ich streichelte Kazuos Hand, die auf der meinen lag, als ihm plötzlich etwas einzufallen schien.
    »Eines muss ich dir noch sagen: Dein Vater sollte vielleicht einsehen, dass wir ein neues Badezimmer bräuchten. Japaner sind da ein wenig heikel ...«
    »Gehen Sie sorgsam mit sich um«, hatte Ricardo beim Abschied lediglich gesagt und Kazuo die Hand geschüttelt. Er hatte ihm zerstreut ins Gesicht geblickt, als wäre er nur ein Punkt im Raum. Dabei war sein Blick merkwürdig traurig und gleichzeitig so, als sähe er ihn nicht. Vor Leuten, die nicht zur Familie gehörten, wollte er unerkannt bleiben. Mit seinen Gefühlen kam Ricardo ganz und gar nicht zurecht.

Weitere Kostenlose Bücher