Muschelseide
würde, begriff erst bei diesen Worten, dass ausgerechnet ihre Qual es war, die das nötige Maß an Zorn und Kreativität in ihr Leben gebracht hatte. Ihr ganzes Werk hatte sie auf Wasser gebaut; die Wellen trugen sie und sie lag auf ihnen, behaglich wie ein Kind in den Armen jenes Vaters, den sie ihr Leben lang vermisst hatte. Sie musste meine Gedanken spüren, denn sie fragte ziemlich barsch:
»Schockiert dich das, was ich gesagt habe?«
Ich schüttelte den Kopf. Sie zog die pechschwarzen Brauen hoch.
»Warum machst du dann so ein Gesicht?«
Ich ging auf ihre Bemerkung nicht ein, sondern fragte stattdessen:
»Und was wirst du jetzt tun? «
Sie saß ganz still; auf ihren Zügen kehrte undurchdringliche Ruhe ein. Nach einer Weile hob sie das Gesicht und sprach zu Kazuo, indem sie mit dem Papier in seine Richtung wedelte.
»Etwas ist mir aufgefallen. Misa und ich haben etwas gemeinsam: Wir machen die Formen des Wassers sichtbar. Der einzige Unterschied ist, dass ich mit Farben arbeite und sie mit dem Computer. Irgendetwas scheint da doch in der Familie zu liegen, meinen Sie nicht auch?«
»Ich habe es schon bemerkt.« Kazuo lächelte. » Misa schreibt außerdem, dass viele Fragen sie beschäftigen. Welche Antwort soll ich ihr jetzt mailen?«
Sie schüttelte bitter den Kopf.
»Zu spät. Ich kann nicht mehr nach Japan.«
Ich erzählte Kazuo, dass der Arzt Francesca vor Flugreisen gewarnt hatte, weil die Gefahr einer Gehirnblutung vorlag.
»Landet das Flugzeug mit einer Toten an Bord, was macht das denn für einen Eindruck? Misa würde entsetzt sein!« Francesca sah mich an, bekräftigte verdrossen meine Worte. »Aber du bist noch jung und ständig unterwegs. Warum gehst du nicht nach Tokio und triffst dich mit ihr?«
Ich starrte sie an.
»Du willst, dass ich für dich nach Japan fliege und mit Misa spreche?«
»Du warst doch schon ein paar Mal dort«, sagte sie. »Und wenn Kazuo dabei ist, läuft alles wie am Schnürchen.«
Während ich verdattert schwieg, schenkte sie mir unvermutet ein Lächeln, das aus den weiten Räumen ihrer Wachträume kam.
»Was ist denn daran so absurd? Du hast Cecilias Tagebuch gelesen und kennst die Geschichte. Und du hast auch die Muschelseide. Also, worauf wartest du noch?«
Ach ja, die Muschelseide! Ich war Cecilias Erbin, das durfte ich nicht vergessen. Das alles kam überraschend. Aber mir ging durch den Kopf, dass Francescas Vorschlag – der eigentlich ein Befehl war – nicht einer gewissen Logik entbehrte. Es mochte wahrhaftig Cecilia sein, die alles ausgelöst hatte. Sie konnte ewig so weitermachen, sie hatte uns gut in den Fingern. Ich blickte fragend zu Kazuo hinüber.
»Ja, was meinst du?«
Er nickte ruhig.
»Es wird Zeit, dass ich in der Redaktion vorbeischaue. Eigentlich bin ich schon viel zu lange weg gewesen.«
Und da spürte ich plötzlich einen kurzen, schmerzlichen Stich im Herzen. Er hatte sein Leben, das sich möglicherweise mit meinem Leben nicht deckte. Mehr als zwei Wochen waren wir unzertrennlich gewesen, hatten aber nie über eine gemeinsame Zukunft gesprochen. Auf einmal war mir bewusst, dass ich mein kühles Benehmen nicht mehr der Sachlichkeit zuschreiben konnte, wie ich es bisher getan hatte, sondern einer zutiefst verborgenen Schüchternheit. Ich erkannte ganz klar, dass ich Kazuo liebte und mich vielleicht damit abfinden musste, von ihm getrennt zu sein. Fast erschrak ich, als ich begriff, dass meine Liebe das Weggehen desjenigen, dem sie galt, bereits einbezogen hatte. Meine Vernunft, auf die ich mich immer verlassen hatte, stärkte mich. Das alles war schon dagewesen. Wenn es sein musste, konnte ich auch ohne ihn auskommen. Ich konnte mich lösen, ohne allzu sehr zu leiden.
Wir würden also zusammen nach Tokio gehen. Und dann ... was? Ein leerer Raum, viel Arbeit, Francesca und mein Vater. Und natürlich auch Nona und die Muschelseide. Ach, Kazuo, wie ich dich jetzt schon vermisse! Konnte ein Gefühl, das so reich an Erinnerung und Vertrauen war, ein Betrug sein? Über diese Frage wollte ich nicht nachdenken. Ich sagte zu Francesca:
»Wenn wir gehen sollen, muss es bald sein. Deine Vernissage ist im Oktober. Da will ich wieder zurück sein.«
Kazuo sagte daraufhin nur, dass er sich um die Flugtickets kümmern wolle. Sein Büro in Tokio würde alles kurzfristig organisieren.
»Und dein Bein?«, fragte ich.
»Mir geht es schon gut«, meinte er. »Und die Fäden kann ich auch in Tokio entfernen lassen.«
Er setzte sich wieder vor
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