Muschelseide
Komisch – da fehlte es bei ihm.
Ich antwortete lachend:
»Francesca hat es schon versucht. Er sagte nur: ›Du meinst wohl, du hast nicht genug Platz in der Wanne? Dann nimm doch eine Dusche!‹ Um ein Haar hätte sie ihn erwürgt. Auf dich wird er eher hören.«
»Ich mag deinen Vater sehr«, sagte Kazuo.
»Er behauptet, dass du gut Schach spielst.«
Kazuo lachte ebenfalls. Sein Lachen war offen und jungenhaft hell. Wir hatten Ordnung in unser Leben gebracht und waren beide sehr glücklich.
»Das sagt er nur, weil er höflich ist. In Wirklichkeit bin ich ein lausiger Spieler.«
35. Kapitel
W ir hatten drei Filme gesehen, geschlafen, gegessen, was uns die Stewardess vorsetzte, und am Himmel das Verblassen der Sterne beobachtet. Der Tag brach an, und die Maschine begann ihren Landeanflug. Noch verbargen Nebel das Land, die Städte, die Autobahnen. Dann und wann tauchten grüne Berge aus den Wolken, und eine Zeit lang flogen wir über das offene Meer mit seinen langen, weiß gekrönten Wellen. Dann kam die Landebahn in Sicht, die blinkenden Lichter. Das Flugzeug setzte zur Landung an, berührte ungewöhnlich sanft den Boden, rollte langsamer, drehte schwerfällig eine Kurve. Musik erklang. Wir waren am Flughafen Narita angekommen. Die Temperatur draußen: frühmorgens schon 27 Grad Celsius. September in Japan, noch Hochsommer. Das Sonnenlicht schien uns hart und grell in die Augen. Bei der Passkontrolle musste ich lange warten, eingekeilt in einer Schlange von müden, gereizten Ausländern. Unsere Gepäcktaschen waren längst da, Kazuo hatte beide geholt. Wie die meisten Einwohner Tokios bevorzugte er den Zug, schneller und bequemer als der Bus, der uns in einer Stunde zum Hauptbahnhof brachte. Das kräftige, satte Grün der Wälder und Reisfelder war nach Maltas trockener Erde Balsam für die Augen. Unter schönen Baumprofilen, von Zierbüschen umgeben, waren die Häuser am Außenrand der Stadt zumeist aus Holz, hatten geschwungene Giebeldächer, die smaragdgrünen oder blauen Ziegel schimmerten kühl und klar. Buntes Bettzeug war zum Lüften über die Balkonbrüstungen gelegt. Wäsche trocknete auf kleinen, runden Bügeln. Alle Farben hatten etwas Frohes, Verspieltes an sich, was mich an Italien erinnerte.
Allmählich aber ging das Grün der Vororte in die Großstadt über, und Kazuo sagte:
»Du wirst Tokio nicht wiedererkennen. Überall werden Häuser abgerissen, neue gebaut.«
Riesige Wohn- und Geschäftsviertel waren entstanden, Wolkenkratzer, die wie blaue Türme an Morgenhimmel funkelten. Wir fuhren an Parks vorbei, an verstopften Ausfallstraßen, an einem Meeresarm mit vielen Schiffen, an einem Riesenrad. Tokio war so anders als die Städte in Europa, hatte auch mit der amerikanischen Bauweise zunehmend weniger zu tun. Granit, Glas und Beton wechselten sich ab, kein Gebäude war wie das andere, und doch passte alles zusammen. Die Stadt dehnte sich in die Höhe, in die Breite, zeigte Zukunftsbejahung, einen Sinn für Effizienz und Harmonie, die zeitgemäß waren, weil die Gegenwart aus einer Vergangenheit wuchs, die noch im höchsten Grade lebendig war. Nach der ungesunden und unnatürlichen Betonwucherung der vergangenen dreißig Jahre gab es im heutigen Japan kaum ein Bauwerk, und sei es noch so gigantisch und auffällig, das nicht mit seiner Umgebung eine Gemeinschaft bildete. Die Auseinandersetzung mit dem Westlichen war überwunden. Die Japaner bauten ihre Städte auf eine Art, die wie eine Folge paradoxer Aussprüche erscheinen mochte und gleichwohl einer uralten ästhetischen Empfindung entsprach, die ihre Arbeit im Hintergrund des Denkens verrichtete.
Der Zug hielt. Endstation. Kazuo wankte ein wenig, und ich fasste ihn am Ellbogen. Menschen strömten an uns vorbei, stauten sich auf Rolltreppen. Die riesigen Hallen und Gänge verstärkten und vervielfältigten die Schritte, die Stimmen, die Ansagen. Wir stellten uns in eine Schlange. Taxis kamen in Schwärmen, brausten davon. Die Fahrer trugen alle weiße Handschuhe. Der gelbe Wagen brachte uns zum Stadtviertel Roppongi, wo Kazuo ein Studio besaß. Die Menschen gingen schnell, bunt und locker gekleidet. Selbst die »Salary-Männer« trugen Hemden mit kurzen Ärmeln und nur selten eine Krawatte. Das grelle Licht schien prall auf die Fensterfronten, und Dohlen, die geflügelten Wahrzeichen Japans, schwangen sich wie schwarze Tuchfetzen mit markerschütternden, rauen Schreien empor. Müde lehnte ich den Kopf an Kazuos Schulter. Mein Denken war
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