Muschelseide
das noch im Schatten lag.
»Die Sonne kommt spät«, sagte Francesca. »Aber wenn ich auf dem Stuhl stand, konnte ich in den Garten sehen. Und jeden Morgen weckten mich die Vögel. Da, hörst du sie? «
Ich nickte. Du liebe Zeit, dachte ich, wann war ich das letzte Mal hier? Vor mehr als zwanzig Jahren vermutlich. Ich hatte das Zimmer kaum noch in Erinnerung. Auch hier stapelte sich Gerümpel: Möbel, Zeitschriften, ein verbeulter Lampenschirm, Lederkoffer, prall gefüllt mit altem Zeug. Auf dem schmalen Bett lag noch die Matratze, in der allgegenwärtigen Feuchtigkeit verschimmelt, darauf vergilbte Kissenbezüge und schwärzlich befleckte Decken aus Wolle und Seide, Erwerbungen von vor hundert Jahren. Auf zwei Bücherregalen, in die Wand eingelassen, stapelten sich Kinderbücher und Romane. Neugierig trat ich näher. Ein paar Bücher waren umgefallen, die anderen lehnten schief dagegen. Alle waren in Leder gebunden, die Titel und die Namen der Autoren auf den Buchrücken in Goldprägung: Jane Austen, Mary Webb, Harriet Beecher-Stowe, Arthur Conan Doyle, die Brontë-Schwestern. Erstaunlich, dachte ich, das sind doch überhaupt keine Bücher für Kinder! Ich jedenfalls hatte sie erst als Heranwachsende gelesen.
Ich wandte mich Francesca zu, die unbeweglich im Zimmer stand. Sie starrte mich an, mit einem sonderbaren Ausdruck im Gesicht. Sie schien auf die Vögel zu horchen, doch in Wirklichkeit lauschte sie auf etwas anderes, auf etwas tief in ihr selbst. Schließlich seufzte sie.
»In meinem Alter kann nicht mehr so leicht über irgendetwas empört sein.«
»Hier oben hast du gewohnt?«, fragte ich. »Nicht im zweiten Stock?«
»Das war, als ich aus dem Internat kam. Eine Sechzehnjährige aß nicht mehr mit der Nanny, sondern am Familientisch. Und es gehörte sich einfach nicht, dass sie noch im Kindertrakt wohnte. Lavinia war erst elf, ließ aber ein solches Gezeter los, dass man für sie eine Ausnahme machte. Oben schlief jetzt nur noch Ricardo, unser Küken, der jede Nacht fürchterlich schrie. Lavinia gab man das Zimmer mit dem Vorraum, das du jetzt bewohnst. Immer nur das Beste für die kleine Prinzessin! Ich bekam das Eckzimmer, du kennst es ja. Immerhin hatte es eine Verzierung aus Stuck, Reben und Puttenköpfen, rosa angemalt.«
»Die Farben sind ganz verblasst«, sagte ich.
»Das macht die Feuchtigkeit. Früher sahen sie wie kleine Ferkel aus. In dieser Zeit kam ich auch in die Tanzstunde. Zum Ausgehen besaß ich zwei Kleider. Das erste hatte ich mir nach einem Schnittmuster aus ›Le Bonheur des Dames‹ angefertigt. Melissa fand es ›oberflächlich genäht‹, was gewiss stimmte. Das zweite schenkte sie mir. Es war ein Modell von Lanvin, sandfarben, mit einem kleinen Jackett. Melissa hatte einen Weinfleck auf das Jackett gemacht, sie gab mir ein Bukett aus künstlichen Veilchen, das ich mit einer Silbernadel an das Revers stecken sollte. Ich warf das Jackett in den Müll und ließ das Kleid rot einfärben. Das hat einen richtigen Schock ausgelöst. Damals trug kein Mädchen ein rotes Kleid zur Tanzstunde.«
Sie lachte leise und boshaft. Ich sagte beherzt: »Ich glaube, verstanden zu haben, warum du benachteiligt wurdest.«
Ihr Lachen erlosch. Sie hob ruckartig den Kopf. Es war die harte, schnelle Bewegung eines Raubvogels.
»So? Hat Ricardo dir etwas gesagt?«
»Nicht viel. Da war irgendeine Geschichte ...«
»Eine Geschichte, die Cecilia betraf?«
Ich schluckte. Sie hatte endlich ihren Namen ausgesprochen. »Ja.«
Sie verzog geringschätzig die Lippen.
»Ricardo! Als ich sechzehn wurde, hatte er noch die Milchzähne! Im Übrigen denke ich, dass sie auch zu ihm nicht ganz ehrlich waren. Immerhin muss er gehört haben, wie die Leute über Gaetano redeten.«
» Gaetano? «, murmelte ich. »War das nicht Cecilias Bruder, der im Ersten Weltkrieg ums Leben kam?«
Sie bewegte ungeduldig die Hand.
»Ja, ja, dein Großonkel! Weißt du eigentlich, wo er begraben liegt?«
»Auf dem Friedhof der Marine.«
»So, das weißt du also?«
Ihre hochmütige Art missfiel mir.
»Natürlich. Wir besuchten die Familiengräber an Allerheiligen. Später allerdings, als Georges und ich im Ausland lebten, kaum noch.«
Sie nickte finster.
»Hat Ricardo dir nie von Gaetano erzählt?«
»Er zeigte mir mal seine Auszeichnungen. Es gibt auch Fotos von ihm. Ich finde, er sah gut aus.«
»Er sah wunderbar aus. Wie ein dunkler Engel. Er war Erster Leutnant, einer der jüngsten seines Jahrgangs. Er hat Cecilia und
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