Muschelseide
jung genug, um den Schmerz in vollem Ausmaß zu spüren. Bisher hatte ich alles geschluckt, was die Familie mir sagte. Jetzt stellte ich die Heuchler zur Rede. Du brauchst mich gar nicht so anzugucken, das hättest du auch gemacht.«
Ich nickte ihr zu.
»Ja, ich denke schon.«
»Es gab Tränen, Geschrei und Peitschenknallen. Ich war glühend vor Zorn und völlig hilflos, verstehst du? Ich klagte sie an, schuldig am Tod meiner Mutter zu sein. Aber das stimmte nur halb. Sie hatten sich – so unsinnig es sich heutzutage anhört – für die damaligen Verhältnisse korrekt verhalten. Weil sie dazu gezwungen waren. Aber das habe ich erst später begriffen. Als ich achtzehn war, unterschrieb ich die nötigen Papiere und verschwand auf Nimmerwiedersehen. «
Sie reckte wütend das Kinn. Ich fragte sehr behutsam, auf die endgültige Explosion wartend:
»Stand in dem Tagebuch auch, wer dein Vater war?«
Sie blieb ruhig. Und ganz unerwartet lächelte sie. Es war ein seltsames Lächeln, in sich behütet, verschlossen. Dabei nickte sie mir zu und bezog mich in dieses Lächeln ein.
»Er war ein Held, das weiß ich mit Sicherheit. Was willst du? Mein Leben war eben sehr ungewöhnlich.«
Ich wagte die nächste Frage.
»Die Aufzeichnungen deiner Mutter, hast du sie noch?« »Sie müssen irgendwo sein«, sagte sie in zerstreutem Tonfall.
»Kann ich sie mal lesen?«
Sie antwortete geistesabwesend, aber nach wie vor freundlich.
»Vielleicht, wenn mir der Sinn danach steht.«
Ich wusste, mehr durfte ich für heute nicht verlangen. Ich faltete den Schal zusammen und gab ihn ihr mit einem Lächeln zurück. Doch sie, statt ihn zu nehmen, tastete mit beiden Händen über ihren dünnen, blassen Hals. Es war, als ob sie fröre.
»Er gehört dir«, sagte sie.
Ich starrte sie an.
»Francesca, was fällt dir ein? Es ist doch der Schal deiner Mutter!«
»Ebendrum«, sagte sie. »Du sollst ihn jetzt haben. Sie hat es mir gesagt.«
Ich merkte, dass ich zitterte.
»Wann?«, fragte ich nervös. »Wann hat sie es dir gesagt?« »Jetzt gerade«, sagte sie. »In diesem Zimmer. Ich sehe, dass sie hier ist. Sie trägt eine Faldetta. «
Das Zittern in mir wuchs. Seit über einem halben Jahrhundert gab es keine Maltesin mehr, die eine Faldetta trug, es sei denn bei Volksfesten. Die Faldetta war ein doppelter Tellerrock, lang und plissiert, aus schwarzem Satin. Die Damen trugen ihn über einem leichten Untergewand. Bei Wind hoben sie den oberen Rock und hielten ihn über den Kopf, um die Frisur vor Staub und Hitze zu schützen. »Die schwarzen Segel«, nannten die Inselbewohner diese Tracht, die die Damen gelegentlich auch trugen, um nicht erkannt zu werden. Cecilia hatte offenbar gute Gründe gehabt, wenn sie in einer Faldetta spazieren ging.
Ich sagte so ruhig ich es vermochte:
»Du kanntest Cecilia doch gar nicht.«
Francescas Stimme wurde plötzlich schrill.
»Ich kenne sie gut, du kannst dich darauf verlassen. Sie ist meine Mutter, und sie sagt mir, was ich zu tun habe. Ich schenke dir jetzt den Schal, weil Cecilia es will. Ich gebe es offen zu, ich war zunächst völlig dagegen. Nach meiner Überzeugung war es verkehrt. Aber es gibt ein Sprichwort, du kennst es nicht, es ist nicht aus deiner Zeit: Wo das Pferd hingeht, muss auch der Wagen hingehen. Verstehst du, was ich meine? Cecilia hat etwas ganz Bestimmtes im Sinn. Sie verfolgt einen Plan. Denke nicht, dass ich phantasiere. Vielleicht hat es damit zu tun, dass ich mich so intensiv in die Dinge vertiefe. Und weißt du was? Ich hätte nie gedacht, dass es noch etwas gibt, was mir gut tun könnte. Aber jetzt tut es mir richtig gut, dass du den Schal hast. Empfindest du es nicht auch so? «
Im Allgemeinen war ich nicht auf den Mund gefallen, aber nun musste ich feststellen, dass mir zum ersten Mal schlicht die Worte fehlten. Was wollte sie eigentlich sagen? Dass Cecilias Atem, ihr Geruch, ihr Schweiß noch als Dinge bestanden, die in der Luft hingen? Dass das Zimmer noch Einzelheiten ihrer physischen Gegenwart enthielt?
Da kam die blitzartige Erkenntnis – diese Gewissheit – wie ein plötzlicher Messerstich: Ich hatte Cecilia gesehen! Es war mitten im August gewesen, erstickend heiß, und meine Mutter lag im Sterben. Ich kam in ihr Zimmer mit etwas Fleischbrühe für sie. Da saß eine Gestalt an ihrem Bett, und ich dachte zunächst, dass es Domenica sei. Aber das war unmöglich, Domenica befand sich ja unten in der Küche und hatte soeben die Brühe für mich aus dem Topf
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