Muschelseide
zeigte mir die Handvoll Mörtel, die sie losgekratzt hatte.
»Irgendwann hatte Cecilia das Loch entdeckt und vergrößert. Bald war genug Platz da, dass sie es verstecken konnte.« Ich starrte sie an.
»Was denn, Francesca?«
»Ihr Tagebuch, was sonst? Sie schrieb es in diesem Zimmer, als sie mit mir schwanger war und niemand sie sehen durfte. Sobald sie Schritte auf der Treppe hörte, ließ sie es unter der Bettdecke oder hinter dem Kopfkissen verschwinden und schlug einen Roman auf.« Sie stockte. Abermals wanderten ihre Finger zu ihrem Schal. In ihn verkrampften sie sich nun.
Ich spürte, wie ihre Erregung langsam auch auf mich übergriff.
»Woher weißt du das alles?«
»Sie hat vier Hefte hinterlassen, alles Schulhefte. Sie schrieb mit Bleistift, weil sie ja liegen musste. Sie hatte einen Radiergummi und besserte die Sätze aus, wenn sie nicht mit ihren Gedanken übereinstimmten. Sie war völlig allein in ihrem Zimmer, monatelang kein Besuch. Nur die Mutter kam und Paola natürlich mehrmals am Tag. Cecilia hatte nur ihr Tagebuch, sonst nichts. Ihr Tagebuch war ihre Zuflucht, ihr Heilmittel, ihr Talisman; ja, all das war es für sie. Und keiner sollte es lesen, niemals.
Nur ich, wenn es an der Zeit war. Dieses Geschenk habe ich von ihr bekommen, aus dem Jenseits. Die Toten sind nicht machtlos, glaub das ja nicht. Sie vergessen nichts, sie lauschen, sie lenken unser Leben oder stellen es auf den Kopf.«
Ich fröstelte. Da war etwas in mir, an das ich mich nicht erinnern wollte.
»Ich hätte dir das nicht erzählt«, fuhr sie fort, »wenn du nicht vom Meer gesprochen hättest. Das hat sehr merkwürdig auf mich gewirkt.«
Während sie sprach, zerrte sie fahrig an ihrem Schal, riss ihn sich buchstäblich vom Hals und hielt ihn mir hin. Ich konnte mir nicht vorstellen, warum sie das tat. Sie handelte wie aus einem inneren Zwang heraus.
»Kannst du mir sagen, was das ist?«
Ich ergriff zögernd den Schal.
»Der ist ja ganz zerschlissen.«
»Das bildest du dir nur ein.« Sie klang anmaßend. »Muschelseide übersteht Jahrhunderte.«
»Muschelseide?«, wiederholte ich fassungslos.
Sie verzog höhnisch die Lippen.
»Sagtest du nicht, dass du kaum etwas über das Meer weißt? Na bitte, da hast du den Beweis!«
Ohne ihre Worte sonderlich zu beachten, faltete ich den Schal behutsam auseinander. Er war breiter, als ich angenommen hatte. Der Stoff kam mir zuerst wie Rohseide vor, fühlte sich aber viel weicher an, wie hauchzartes Musselin. Und trotzdem erweckte er den Eindruck, dass er wärmen konnte. Das eingewebte Muster, das ich erst jetzt deutlich sah, zeigte verschiedene Meeresorganismen: Algen, zwei Seepferdchen und Fische, die Schmetterlingen glichen. An einer Seite war ein großer Seestern dargestellt. Nur zur Hälfte erkennbar, sah es aus, als würde er sich zurückziehen, davonschwimmen ins Nichts. Im Gegensatz zu dem hellgoldenen Stoff waren die Muster in warmem Rotbraun gehalten und kamen erst vollkommen zur Geltung, wenn man das Tuch im Gegenlicht ausbreitete.
»So was!«, murmelte ich.
Ich betrachtete das Tuch mit steigender Faszination. Die seidigen Fäden wirkten auf ersten Blick, als seien sie aus Nylon oder Viskose. Erst beim näheren Hinsehen entdeckte man die Struktur, die nur natürlichem Material eigen war. Auch schimmerte die goldene Farbe nicht wirklich golden, sondern grünlich, wie antike Bronze. Dieser Schimmer war es, der mich an etwas Wässeriges erinnerte, an gewisse Algen. Ich blickte Francesca an.
»Dann gehörte dieser Schal also Cecilia? «
Sie holte tief Luft und sprach mit halb abgewandtem Gesicht.
»Er war Gaetanos Geburtstagsgeschenk und eigens für sie gewebt worden. ›Bisso marino‹ nennen die Italiener diese Seide. Sie kostete schon damals ein Vermögen. Und als Cecilia das Fruchtwasser verlor und spürte, dass es schlimm um sie stand, wickelte sie die vier Hefte in den Schal, bevor sie alles versteckte. Auch der Schal sollte nicht in falsche Hände geraten. Er hatte, siehst du, eine ganz besondere Bedeutung für sie...«
Francesca zog die Tapete wieder über die Öffnung, glättete sie mit der Handfläche, bevor sie die Bücher an ihren Platz stellte. Ich sagte, immer noch fassungslos:
»Ich kann verstehen, wie es für dich war.«
Sie schüttelte heftig den Kopf.
»Nein, das kannst du nicht. Das kann kein Mensch.« Ich seufzte.
»Also gut.«
Sie machte eine versöhnende Geste.
»Ich war objektiv genug, um den Sachverhalt zu erkennen. Aber leider auch
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